Paradox Rumänien: Aufstrebende Wirtschaft, armutsgefährdete Bevölkerung
Im Jahr 2023 waren im Durchschnitt etwas mehr als 21 % der Bevölkerung der Europäischen Union von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, und Rumänien war das Land mit dem höchsten Anteil an davon betroffener Bevölkerung: 32 %. Zugleich gehörte Rumänien im zweiten Quartal desselben Jahres zu den drei führenden EU-Ländern in Bezug auf das Wirtschaftswachstum. Wie erklären Experten diese Diskrepanz? Zu diesem Thema haben wir uns mit dem Politologen Andrei Țăranu unterhalten.
Iulia Hau und Sorin Georgescu, 22.01.2025, 17:30
Experten beschreiben das Armutsrisiko und die Gefahr der sozialen Ausgrenzung als die Situation eines Haushalts, in der mindestens einer der drei folgenden Zustände gegeben ist: Einkommen unterhalb der Armutsgrenze (im Jahr 2023 waren dies 1 619 Lei im Monat – umgerechnet etwa 325 Euro pro Person), materielle und soziale Entbehrungen und geringe Erwerbsbeteiligung (etwa wenn Erwachsene in einem Umfang unter 20 % ihres jährlichen Potenzials arbeiten). Den Eurostat-Statistiken für das Jahr 2023 zufolge stehen die Einwohner Rumäniens bei diesem Risiko an erster Stelle (32 %), gefolgt von Bulgarien (30 %), Spanien (26,5 %) und Griechenland (26,1 %).
Darüber hinaus ist laut einer Studie der Organisation „Save the Children“ fast jedes zweite rumänische Kind (41,5 %) von Armut betroffen und von sozialer Ausgrenzung bedroht – fast doppelt so viel wie der europäische Durchschnitt. Andere Eurostat-Daten zeigen auch, dass in Rumänien – mehr als in jedem anderen EU-Land – Armut vererbt wird. Nur 4 % der Jugendlichen, die in Familien mit niedrigem Bildungsniveau aufwachsen, besuchen anschließend eine Universität. Nur in Bulgarien ist dieser Prozentsatz unbedeutend niedriger (3,9 %), während Spanier, Portugiesen und Griechen am ehesten in der Lage sind, einen Hochschulabschluss zu erwerben, wenn sie aus Familien ohne Hochschulbildung stammen: 49,8 %, 37,6 % bzw. 34,5 % – in der Reihenfolge der erwähnten Länder.
Doch warum lebt ein Drittel der Rumänen am Rande der Armut, wenn das Bruttoinlandsprodukt des Landes im Jahr 2023 im Vergleich zu 2022 um 2,4 % gestiegen ist und die aktive Bevölkerung zu den Europäern gehört, die mit 39,7 Stunden pro Woche die meisten Stunden am Arbeitsplatz verbringen, während der europäische Durchschnitt bei 36,4 Stunden liegt?
Das haben wir Andrei Țăranu, Politikwissenschaftler und Professor an der Bukarester Hochschule für politische und administrative Studien (SNSPA), gefragt, und er hat eine Erklärung für diesen Widerspruch. Dabei hat er auch Vorwürfe gegen die Generation der Interviewerin parat:
„Hierzulande hat sich das Wirtschaftswachstum trotz der und gegen alle sozialpolitischen Maßnahmen durchgesetzt. Übrigens war es Ihre Generation, die [bei den sozialen Unruhen – Anm. d. Red.] [von] 2017 gegen die Sozialhilfe war, gegen die sogenannten „Zahnlosen“, die von einer Art Gesellschaft schwadronierte, die vollständig von den Menschen vom Land, jenen aus den Kleinstädten und insbesondere von Rentnern gesäubert werden müsste. Dabei galten die Rentner als verachtete Verkörperung all dessen, was die kommunistische Vergangenheit Rumäniens bedeutet hatte. In der Stadt Iași (Jassy), wo ich auch herkomme, gab es diesen erschreckenden Bericht über junge Leute, die einen alten Mann nur so zum Spaß mit Ein-Leu-Scheinen bewerfen, um zuzusehen, wie dieser das Geld vom Boden aufsammelt. Ich denke, das war ein schrecklicher Moment der Kaltschnäuzigkeit.“
Der Politikwissenschaftler Andrei Țăranu ist der Auffassung, dass die Generation mit dieser problematischen sozialen Einstellung insbesondere Jugendliche sind, die nach 1990 oder sogar nach 1985 geboren wurden, die sogenannten frühen Millennials. Eine Generation, die, wie der Experte beschreibt, in einer wirtschaftlichen und sozialen Blase in den Großstädten lebt. Eine Generation, die ausblendet, dass es auch noch ein anderes Rumänien gibt, und die jeden Bezug zur Vergangenheit kappen will, ohne diese Vergangenheit überhaupt verstanden zu haben. Der Politikwissenschaftler definiert diese Generation als die Kohorte des neuen Kapitalismus, die sich durch die schlichte Existenz der anderen Generationen gestört fühlt, weil die letzteren einen Bezug zur Übergangszeit seit dem Ende des Kommunismus haben, eine unterschiedliche Lebensweise pflegen und ein anderes Konsumverhalten an den Tag legen:
„Alle öffentlichen Maßnahmen, die in Rumänien nach 2004 ergriffen wurden, waren ausschließlich auf die reine wirtschaftliche Entwicklung ausgerichtet. Es wurden Gelder für Kleinst- und mittlere Unternehmen und Neugründungen bereitgestellt. Jetzt werden riesige Summen in Autobahnen investiert, aber die Sozialhilfe und eine ganze Reihe von sozial schwachen Gruppen werden einfach vergessen. Und wenn überhaupt von Sozialmaßnahmen des Staates die Rede ist, werden zum Beispiel ältere Menschen aus dem ländlichen Milieu ins Rampenlicht gebracht, damit sich Politiker aus wahltaktischen Gründen profilieren und als Beschützer der Senioren und Hüter der Tradition inszenieren können.“
Eine Lösung, um diese sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichte auszugleichen, sieht der Experte allerdings nicht. Seine Prognose ist eher pessimistisch:
„Natürlich kann eine Lösung dieses Problems nur politisch sein – ohne politischen Willen kann es keine Lösung geben! Und das würde eine kritische Masse voraussetzen, die die sozialen und Generationsunterschiede nachvollzieht. Ich glaube nicht, dass das möglich sein wird. Ein großer Teil dieser Abgehängten (auf Englisch heißen sie »Left-Behinders«), die in prekären Arbeitsverhältnissen arbeiten, keine oder nur eine unterdurchschnittliche Ausbildung haben, die auf dem Bau oder in anderen prekären Bereichen arbeiten, sind heute Befürworter rechtsradikaler bis faschistischer Bewegungen. Zu den Verachteten gehören beispielsweise auch die Straßenkehrer, die als Angestellte der Kommunalverwaltung ebenfalls als »Staatsbedienstete« verspottet werden. Und es ist offensichtlich, dass diese neue, urbane Elite diesen Abgehängten nicht die Hand reichen will, weil die Elite sie als Feinde betrachtet, als diejenigen, die uns aus der EU und der NATO angeblich herausbugsieren und Rumänien generell in die Luft jagen wollen. Diese Leute wollen Rumänien nicht ins Chaos stürzen, sondern ihr Leben in Rumänien ist in ihren Augen einfach unerträglich geworden.“
Der Politologe Andrei Țăranu ist ferner der Ansicht, dass das Jahr 2004 ein Wendepunkt war, der die Spaltung zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen und Generationen weiter vorangetrieben hat. Außerdem hätten die Medien einen großen Teil der Verantwortung für dieses Missverhältnis getragen. Er argumentiert, dass die Medien in ihrer Sensationslust den größeren Kontext nicht beleuchtet hätten, in dem sich Tragödien abspielen, abweichendes Verhalten und kriminelle Situationen entstehen. Solche Sachverhalte entstünden meist in sozialen Milieus mit hohem Risiko für Armut und soziale Ausgrenzung. Die so genannten „Armutsblasen“, die von der Presse immer wieder ausgeschlachtet werden, seien die vernachlässigten Regionen und Bevölkerungsgruppen des Landes. Und für sie ergreife der Staat keine Maßnahmen, um den Abstand zur privilegierten Bevölkerung in den Großstädten zu verringern.