Leseförderung: „Narativ“ – das Lektürefestival für Kinder
Kinder und Jugendliche verlieren immer mehr die Lust am Lesen, heißt es oft. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, veranstalte der Verein Curtea Veche ein Lektürefestival für Kinder.
Ana-Maria Cononovici, 13.10.2016, 17:30
Auf wie viele Arten kann ein Märchen gelesen werden? Das fragten sich diesen Herbst die Mitarbeiter des Vereins Curtea Veche. Um eine Antwort zu liefern, luden sie Kinder, Eltern und Lehrer zu einem Lektürefestival für Kinder ein. Das Lektürefestival heißt NARATIV und findet heuer zum zweiten Mal statt. Die Teilnehmer hatten freien Zugang zu den 120 Aktivitäten, die innerhalb des Festivals veranstaltet wurden. Sämtliche Workshops im Rahmen des Festivals verfolgten ein einziges Ziel — das Interesse der Kinder für Lektüre anzuspornen und die Eltern zur Lektüre mit dem Kind anzuregen.
Valentina Roman ist Projektleiterin und Geschäftsführerin des Vereins Curtea Veche. Sie stellte das Projekt Narativ — ein Lektürefestival für Kinder“ auf die Beine. Valentina erzählte uns, wie es dazu kam:
Der Verein Curtea Veche wurde vor zwei Jahren gegründet. Das heißt, seit zwei Jahren versuchen wir Kinder zum mehr Lesen zu animieren. Lesen soll Spaß machen, nicht als Pflicht betrachtet werden. Diese Botschaft versuchen wir zu vermitteln. Wir veranstalten verschiedene Aktionen, sowohl in Städten wie auch im ländlichen Raum. Dabei erkannten wir zwei wesentliche Hindernisse, die den Kindern den Zugang zu Lektüre erschweren: Im ländlichen Raum, in den Dörfern, haben die Kinder keinen Zugang zu Büchern. In den Städten dagegen besteht diese Schwierigkeit nicht. In den Städten gibt es Buchhandlungen, die Kinder haben zuhause Bücher, doch sie zeigen kaum ein Interesse am Lesen. Die Eltern machen sich Sorgen, sie wissen nicht, wie sie ihre Kinder für das Lesen begeistern können. So sind wir auf den Gedanken gekommen, ein Lektürefestival zu veranstalten. Im Rahmen des Festivals finden verschiedene interaktive Workshops statt, an denen sich Kinder und Eltern beteiligen. Wir versuchen das Lesen attraktiv zu machen. Wir wollen ihnen zeigen, dass Geschichten und Märchen auch anders gelesen werden können.“
Workshops wie Die Odyssee — ein Comicheft“, Pinocchio — Märchen mit Musik“, Peter Pan — Schauspielkunst für Leser“ oder Storytelling“ begeisterten die kleinen Teilnehmer und boten ihnen zugleich die Möglichkeit, sich künstlerisch einzubringen: sie zeichneten, komponierten Musik, spielten Theater und dachten sich eigene Geschichten aus. Bekannte Märchen der Weltliteratur wurden neuentdeckt, umgestaltet und überdacht, so Valentina Roman, die Leiterin des Projektes Narativ — ein Lektürefestival für Kinder“:
Wir sind von mehreren bekannten Märchen ausgegangen und haben die Kinder aufgefordert, ihre Einbildungskraft einzusetzen. Wir regten sie z.B. an, ein Lieblingsbuch mit Musik zu unterlegen oder ein Comicheft nach der Odyssee zu erstellen. Wir bauten ein Schattentheater auf und forderten sie auf, Geschichten zu erfinden. Wir dachten auch an die ganz jungen Teilnehmer, an die Kinder, die noch nicht lesen können. Für sie schrieben wir einige Reimspiele und Rätsel auf. Wir fassten sie zusammen unter dem Titel »Buchstaben für Kerlchen«. Dadurch wollten wir sie mit dem Alphabet vertraut machen.“
Barna Nemethi ist Regisseur und Fotograf. Er leitete ein Workshop für Kinder innerhalb des Festivals. Wir baten ihn, seine Erfahrung mit uns zu teilen:
Der von mir geleitete Workshop hieß »Märchen-Journalist«. Wir gingen von den grundsätzlichen Fragen aus, die sich ein Journalist stellt, und versuchten das Geschehen in mehreren Märchen zu ermitteln. Wir wollten den Kindern zeigen, dass ein Buch nicht bloß als Lesestoff fungiert. »Robinson Crusoe« zum Beispiel ist ein Kinderbuch aber zugleich auch ein Studium der Politikwissenschaft. Wir regen die Kinder an, das Gelesene zu hinterfragen.“
Das Lektürefestival stellt eine gute Gelegenheit dar, Schüler und Kinder und ihr Leseverhalten kennenzulernen, sagte unser Gesprächspartner. Und fügte noch hinzu:
Beim Workshop, den ich dieses Jahr leitete, thematisierten wir die »Reise zum Mittelpunkt der Erde« von Jules Verne. Es ist ein bedeutender Science-Fiction-Roman, besonders beliebt unter den Konsumenten dieses literarischen Genres. Das Gespräch entwickelte sich in mehrere Richtungen. Die Teilnehmer stellten Fragen wie z.B.: Was steht im Mittelpunkt der Erde, wie können wir das herausfinden, was wusste Jules Verne über den Mittelpunkt der Erde. Es war ein sehr interessanter Meinungsaustausch für alle Teilnehmer.“
György Gáspár ist ein Fachmann auf dem Gebiet der Familien- und Paartherapie. Er leitete mehrere Workshops beim Lektürefestival:
Wie auch vergangenes Jahr war auch das diesjährige Lektürefestival eine besondere Erfahrung. Viele Familien wünschen sich, dass ihre Kinder Spaß am Lesen haben. Sie wünschen sich, dass ihre Kinder gerne lesen. Sie wollen eine Freundschaftsbeziehung zwischen ihren Kindern und den Büchern aufbauen. Eltern und Kinder nahmen zusammen an verschiedenen Aktivitäten teil, aus denen die Bedeutung des Lesens hervorging. Die Beziehung zu den Büchern ist meiner Ansicht nach gleichzusetzen mit jeglichen gewöhnlichen Freundschaftsbeziehungen, die wir in unserem Leben pflegen. Wie alle anderen Freundschaftsbeziehungen muss auch die Beziehung zu den Büchern liebevoll gepflegt werden. Die Eltern dürfen die Kinder nicht unter Druck setzen, damit diese mehr lesen. Sie sollten vielmehr das Lesen attraktiv machen, so dass die Kinder Spaß daran haben. Drum sollten die Eltern schon von klein auf ihren Kindern Märchen vorlesen, mit ihnen kommunizieren. Der Akt des Lesens basiert auf die Fähigkeit des Kindes, Worte wahrzunehmen und zusammenhängend zu verstehen. Mehr als 100 Eltern beteiligten sich an meinem Workshop.“
Letztes Jahr seien 40 kreative Werkstätte im Rahmen des Festivals organisiert worden, dieses Jahr waren es 120. Mehr als 2000 Kinder beteiligten sich daran, so Valentina Roman, Leiterin des Projektes Narativ — eine Lektürefestival für Kinder“ und Geschäftsführerin des Vereins Curtea Veche. Die Arbeit mit Kindern überrasche sie jedes Mal aufs Neue, so Valentina Roman. In diesem Zusammenhang erwähnte sie ein lustiges Geschehnis:
Die Kinder haben fast immer einen gescheiten Spruch parat. Ich kann Ihnen von einem Mädchen erzählen, das uns sagte, sie lese gerne »Die drei Musketiere«, weil sie eigentlich zu viert seien.“
Im gleichen Ton kann im Mittelpunkt der Erde eine noch kleinere Erde gefunden werden. Und so weiter. Spiel, Erforschung, Erkenntnis — alles rund ums Lesen!