„Acasă, My Home“: meistgekrönter Dokumentarfilm des Jahres
Mit der mehrfach preisgekrönten Dokumentation Acasă, My Home“ über die Integration einer Roma-Familie hat sich der Filmemacher Radu Ciorniciuc gewünscht, seinen Figuren eine Stimme zu verleihen. Das sei nur dann möglich, wenn man Empathie zeige.
Corina Sabău, 14.11.2020, 17:30
Die Dokumentation Acasă, My Home“, mit der der Filmemacher Radu Ciorniciuc sein Debüt als Dokumentarfilmregisseur gab, hat auf dem Internationalen Filmfestival Sundance den Preis für das beste Bild (den World Cinema Documentary Award) erhalten. Die rumänische Dokumentation wurde ebenfalls mit dem Preis der Jury auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival in Thessaloniki ausgezeichnet. In München erhielt der Dokumentarfilm von Radu Ciorniciuc den Großen Preis des Festivals DOK.fest.
Acasă, My Home“ erzählt die Geschichte einer obdachlosen Roma-Familie, die etwa zwanzig Jahre lang im wilden Văcăreşti-Delta am Rande der rumänischen Hauptstadt lebte, einem verlassenen Ort, der nach seiner Verwilderung zu einem Schutzgebiet und dem ersten städtischen Naturpark Rumäniens erklärt wurde. Vier Jahre lang verfolgte der Regisseur Radu Ciorniciuc das große Abenteuer“, das die Familie Enache erlebt hat, ihren Weg von einem Leben in perfekter Harmonie mit der Natur zu einem Leben im Großstadtdschungel. Gleichzeitig startete sein Team ein soziales Projekt, zu dem viele Experten und humanitäre Organisationen beitrugen. Und das aus gutem Grund: Die elf Mitglieder der Familie Enache hatten ein Leben außerhalb der Gesellschaft geführt — ohne Identitätspapiere, ohne Bildung, ohne Zugang zu medizinischer Versorgung. Mittlerweile sind alle neun Kinder dieser Familie behördlich registriert, sind in der Schule eingeschrieben und werden regelmäßig von Ärzten besucht. Die Erwachsenen ihrerseits haben feste Arbeitsplätze.
Der Reporter Radu Ciorniciuc ist einer der Gründer des unabhängigen Journalisten-Portals Casa Jurnalistului“ und Produzent von zahlreichen Reportagen. Mit diesem Film schaffte der Journalist den Übergang von Reportagen zu Dokumentationen:
Meine Faszination für die Geschichte dieser Familie ist dadurch zu erklären, dass diese Menschen eine starke und konsolidierte Familie sind. Zum zweiten die fabelhafte Beziehung der Kinder zur Natur ist eines der Themen, die meiner Meinung nach eine große Bedeutung tragen. Nachdem sie in die Stadt gezogen sind, habe ich natürlich den Integrationsprozess beobachtet. Die ganze Geschichte erwies sich als sehr komplex, selbst wenn vor vier Jahren, als das Projekt startete, alles ganz einfach schien. Deswegen haben wir ursprünglich das Ganze als Reportage mit einer sozialen Komponente um die Geschichte des Văcăreşti-Deltas, und nicht als Film gedacht. Aber die Geschichte entwickelte sich ganz natürlich zu dem, was sie geworden ist. Wir haben jahrelang für diesen Film gearbeitet und wir hatten mit der Zeit neue Ideen. Was den Filmschnitt angeht, sehe ich es immer als große Herausforderung, hunderte Stunden Aufnahmen zu haben und daraus die Essenz zu ziehen, die die Geschichte bildet. Als Regisseur ist man gezwungen, rund 300 Aufnahmestunden in 86 Minuten zu komprimieren. Am Anfang schien es mir so gut wie unmöglich, die ganze Geschichte zu erzählen, aber zusammen mit der Drehbuchautorin Lidia Vdovîi und der Produzentin Monica Lăzurean-Gorgan und besonders mit dem Cutter Andrei Gorgan haben wir es geschafft, das Wesentliche aus rund 300 Aufnahmestunden zu finden, ohne die wichtigen Themen zu übersehen. Der Schnitt dauerte zwei Jahre, weil das sehr schwer ist, so viel Stoff in einem Film zu fassen und die beste Form einer solchen Geschichte zu finden.“
Radu Ciorniciuc und die Drehbuchautorin Lina Vdovîi haben sich in erster Linie gewünscht, ihren Figuren eine Stimme zu verleihen. Das sei nur dann möglich, wenn man Empathie zeigt und wenn man versteht, wie schwer die Integration einer Roma-Familie in der Gesellschaft ist, sagen unsere Gesprächspartner. Selbst wenn Acasă, My Home“ sich international eines großen Erfolgs freute, konnte Radu Ciorniciuc im Kontext der Coronavirus-Pandemie bei Preisverleihungen nicht dabei sein:
Dank Zoom konnte ich so viele Filmfestivals erreichen, physisch konnte ich allerdings nur in Zürich sein, wo wir einen Sonderpreis gewonnen haben, und in Köln, wo wir eine andere wichtige Auszeichnung erhielten, dank der diese Produktion europaweit viel an Sichtbarkeit gewonnen hat. Es ist beeindruckend, so viele Menschen zu treffen, die unserem Projekt nahestanden, einem Projekt, das zum Nachdenken anregte, so viele Diskussionen auslöste und die Menschen auf eine harte Realität aufmerksam machte. Wir waren so froh, zu sehen, dass die Kinosäle in Zürich und Köln voll waren und bei den Q & A-Sessions gab es auch ein zahlreiches Publikum. Das finde ich wunderbar, dass die Menschen ihr Interesse und die Neugier für solche Geschichten nie verlieren.“
Die Dokumentation Acasă, My Home“ wurde auch für die Preise der Europäischen Filmakademie (EFA) ausgewählt und feierte am 15. Oktober seine Premiere im Pay-TV-Sender HBO GO.