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Tatiana Ţîbuleac – eine kräftige Stimme der rumänischsprachigen Literatur

Für den Roman Der Glasgarten“ hat Tatiana Ţîbuleac den EU-Literaturpreis erhalten. In ihrem zweiten Roman wirft die moldauische Autorin einen nüchternen Blick auf ihr Leben in der Stadt Chişinău ihrer Kindheit.

Tatiana Ţîbuleac – eine kräftige Stimme der rumänischsprachigen Literatur
Tatiana Ţîbuleac – eine kräftige Stimme der rumänischsprachigen Literatur

, 01.08.2020, 17:30

Tatiana Ţîbuleac hat am Tag der Kultur den rumänischen Kultur-Verdienst-Orden erhalten. Die Schriftstellerin und Journalistin wurde vom Staatschef Klaus Iohannis mit der Auszeichnung für ihr literarisches Werk, ihre literarische Begabung und Professionalismus geehrt, die auf europäischer Ebene anerkannt werden. 2019 war die rumänischsprachige Autorin unter den 14 Preisträgern des Europäischen Literaturpreises, die im Oktober vorigen Jahres auf einer Gala im Palast BOZAR in Brüssel ausgezeichnet wurden. Für den Roman Der Glasgarten“ erhielt Tatiana Ţîbuleac den Literaturpreis der Europäischen Union. Für die Literaturkritikerin Simona Sora ist Der Glasgarten“ in mancher Hinsicht der Roman einer ganzen weiblichen Generation und einer gleicherma‎ßen authentischen und überraschenden Erzählerin.




Wir haben Tatiana Ţîbuleac auf der Tagung The Power of Storytelling“ getroffen und mit ihr über Schreiben, Sprachen, ihre Heimatstadt Chişinău, ihre Wahlheimat Frankreich, über wie die rumänische Sprache ihre Erzählungen gestaltet, über die Kontroversen um ihren Roman Der Glasgarten” sowie über den EU-Literaturpreis gesprochen:



Sehr beeindruckend war für mich als ich auf der Bozar-Bühne aus dem Roman vorgelesen habe. Im Saal gab es viele Rumänen und es war, als ob auf Rumänisch auf dieser Bühne zu lesen, ein Preis an sich war. Ich dachte, dass all diese Menschen, die preisgekrönten Autoren da waren, um eine Geschichte zu erzählen, und die Stimme Rumäniens war genauso stark wie die anderen. Das hat mich total beeindruckt, es war eine unerwartete Freude. Ich versuche, diese Auszeichnungen zu genie‎ßen, aber ich muss auch zur Arbeit zurückkehren, zum Schreiben.“




In Chişinău gibt es eine Stra‎ße, den längsten und schwierigsten Weg in der ganzen Welt. Auf jener Stra‎ße sprechen die Gebäude, die Bäume, die Ampeln, sogar die Müllcontainer und Löcher im Asphalt Russisch“, hei‎ßt es an einer Stelle im Roman Der Glasgarten“. Wie bezeichnet die Autorin ihr Verhältnis zu den unterschiedlichen Sprachen, die sie beherrscht? Als angespannt, eng und unvorhersehbar, sagt Tatiana Ţîbuleac:



Es gibt Menschen, die eine einzige Sprache sprechen, und sie tun es sehr gut, es gibt hingegen andere, die mehrere Sprachen sprechen, und keine davon sprechen sie gut. Ich gehöre der zweiten Kategorie an, ich komme mit vielen Sprachen zurecht, wenn ich aber eine Sprache verwenden soll, wählt sie mich und nicht umgekehrt. Zuhause spreche ich Englisch mit meinem Mann, und das ist die Sprache, in der ich über meinen Alltag am besten erzählen kann. Ich lebe in Paris und meine Kinder sprechen Französisch, dank meinen Kindern liebe ich Französisch, für mich ist Französisch eine Sprache der Kindheit und der Spiele. Ich spreche auch Russisch und durch das Russische komme ich mit einer gro‎ßen Literatur in Verbindung, ich höre zudem sehr gerne russische Musik. Rumänisch ist für mich die Sprache der Freundschaft und die Sprache, die ich immer wieder neu erlerne, indem ich schreibe. Rumänisch liegt mir sogar näher am Herzen, seitdem ich den Roman »Der Glasgarten« geschrieben habe, denn ich habe einen neuen Blick auf die Stadt Chişinău zur Zeit meiner Kindheit geworfen, als ich in diesem Innenhof unseres Quartals meistens Russisch sprach. Durch diese Wiederannäherung ist meine Bindung an die rumänische Sprache stärker geworden.“




Tatiana Ţîbuleac nähert sich in ihrem Roman dem Thema Mutter-Kind-Beziehung, dem geliebten und nichtgeliebten Kind, den tragischen Folgen der fehlenden Liebe an. Ihr Roman »Der Glasgarten« ist genauso stark und beeindruckend wie ihr preisgekrönter Roman »Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte«. Die Schriftstellerin erzählt die Geschichte eines Waisenmädchens, das ein multikulturelles Chişinău entdeckt, als sie von einer einsamen und ambitionierten Frau adoptiert wird. Will die Frau dem Kind ein neues Leben bieten oder wird das Mädchen, genau wie in den Romanen von Charles Dickens, in einer Fabrik ausgebeutet? Die Fragen bleiben auch nach der Lektüre offen. »Der Glasgarten« ist der Bildungsroman eines Mädchens, das zwischen zwei Kulturen in den Jahren aufwächst, als die Grenzen und politischen Systeme sich verändern“, schreibt die Schriftstellerin Gabriela Adameşteanu über den Roman von Tatiana Ţîbuleac. Wie sieht die Autorin selbst ihren Roman?



Diese Frage habe ich mir mehrmals gestellt, ob mein Roman verstanden wird. Ob die rumänischen Schriftsteller die Gegebenheiten aus dem Chişinău verstehen, das ich in meinem Roman beschreibe, stand auch für mich am Anfang unter Fragezeichen, ich war aber positiv überrascht. Ich habe mich auch gefragt, warum würde ein Franzose die Geschichte eines Mädchens lesen, das in Chişinău die russische Sprache anstatt des Moldauischen zu lernen versucht, wie damals unsere Sprache bezeichnet wurde, das eigentlich Rumänisch war. Der französische Übersetzer des Romans sagte, dass er etwas völlig anderes in meinem Roman gefunden habe. Dieser Kampf um Identität sei nichts Seltenes, viele fänden sich in diesem Kampf wieder. Meiner Meinung nach gibt es mehr als nur eine Möglichkeit, den Roman »Der Glasgarten« zu lesen und zu verstehen.“

Foto: Adi Mărineci
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