Europäisches Theaterfestival in Temeswar: Themenvielfalt und Innenleben
Unter den Stichwörtern Involution, Revolution, Evolution“ befasste sich Anfang Mai ein europäisches Theaterfestival in Temeswar mit dem Wandel in der Bühnenlandschaft und dem Umgang des Theaters mit gesellschaftlichen Themen.
Luana Pleşea, 26.05.2018, 18:30
Es war bereits die 23. Auflage des Bühnenfestivals in der westrumänischen Großstadt, und nachdem sie viele Jahre die Szene begleitete, kann die Theaterkritikerin Oana Borş von einer Evolution in der rumänischen Dramaturgie berichten — und über ein gewisses Starsystem, das sich schon etabliert hat: Es ist eine Entwicklung in kleinen Schritten, aber Leute, die die Szene beobachten, sehen das. Es geht in erster Linie um eine Erweiterung der Themenvielfalt — man konzentriert sich weniger auf die Beleuchtung großer sozialer Themen, sondern erforscht auch das Innenleben und das Verhältnis zwischen Mitmenschen im engeren Sinne. Zudem haben wir bereits Dramaturgen, die einen bestätigten Erfolg haben — Csaba Székely, Mihaela Michailov und Radu Apostol, die auch seit geraumer Zeit zusammenarbeiten“, sagt die Kritikerin, die auch die Stücke für das Festival in Timişoara (Temeswar) auswählte.
Und tatsächlich beleuchtet ein Stück wie Siebenbürgische Geschichte“, nach einem Text von George Ştefan und in der Regie von Andi Gherghe, die intimsten Gefühle einer Mischfamilie — der Autor geht von einer wirklichen Story aus und berichtet über das Zusammenleben von Magyaren und Rumänen im siebenbürgischen Schmelztiegel der Nationen. Das Stück verfolgt die Familiengeschichte über mehrere Generationen, setzt aber einen Schwerpunkt auf die schweren Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gemeinden vom 19.–21. März 1990 in Târgu Mureş. Das Stück wird zweisprachig aufgeführt und für die Darsteller war es eine zum Teil verstörende Erfahrung. Richard Balint spielt den Geheimdienstler Ştefan Remeş, einen Rumänen, der im Kommunismus seinen ungarischen Mitbürger István Szabados verhört und inhaftiert. Den Part des Szabados übernahm Gyula Kocsis. Beide Schauspieler haben ähnliche Erfahrungen wie die ihrer Figuren gemacht, erzählt Richard Balint: Ich bin gewissermaßen auch ein rumänisch-ungarisches Produkt. Mein Vater war Ungar, meine Mutter Rumänin und ich habe auch solche Dinge erlebt. Ich habe in meinem Heimatort zweimal Prügel kassiert — das kam dort vor. Und 1990 im März passierte auch was. Keine Gewalt unbedingt, aber die Menschen, sogar Freunde oder Nachbarn, begannen Angst vor uns zu haben“, schildert Richard Balint die Lage in seiner Stadt Cugir — also nicht einmal in Târgu Mureş selbst, wo es zu den gewaltsamen Zusammenstößen kam. Für seinen Kollegen Gyula Kocsis war die Rolle noch ein Stückchen unheimlicher. Denn genau wie seine Figur musste sein eigener Vater in Oradea für 11 Monate ins Gefängnis, weil er über die Grenze flüchten wollte.
Genauso beeindruckend waren die Erfahrungen, die im Stück Shakespeare für Ana“ zur Sprache kamen. Das Coliseum-Zentrum in Chişinău, der Hauptstadt der Republik Moldau. Es geht um eine Art Theaterdokumentation, in der Straftäter aus moldauischen Anstalten interviewt wurden — auch Frauen und Jugendliche. Text und Regie stammen von Luminiţa Ţâcu — seit langer Zeit beschäftigt sie das Thema der Menschen im Gefängnis: In 2008 habe ich das Stück »Haus M« gemacht, wo ich den Monolog einer Frau einbaute, die ihren Mann umgebracht hatte. Eine Zeitlang verging und ich fragte mich, was mit den Frauen passiert war, die ich im Gefängnis von Rusca interviewt hatte. Ich fragte mich, wie diese Frauen ohne Liebe auskommen können — das war die Grundidee“, sagt die moldauische Dramaturgin. Sie besuchte anschließend drei Gefängnisse und unterhielt sich mit Insassen und Beamten vom Wachpersonal. Auch nach diesem Stück blieb ein bitterer Nachgeschmack, gesteht Luminiţa Ţâcu — man hat Gewissensbisse, weil in dieser Welt hinter Gittern Menschen zurückbleiben, die nach Liebe dürsten, während man selbst frei ist.
Die europäische Komponente kam auch gut zum Tragen, sagt die für das Programm zuständige Kritikerin Oana Borş. Der in Europa gut bekannte Regisseur Milo Rau kam mit einem Stück, das seine Truppe mit dem nicht minder bekannten Berliner Ensemble Schaubühne aufführte: ein Doku-Drama zum Thema Migration. Dabei treten zwei Syrer, die seit längerer Zeit in Europa leben, in einen Bühnendialog mit der rumänischen Stardarstellerin Maia Morgenstern und einem griechischen Kollegen. Und Luk Perceval führte mit seinem Thalia-Theater Steinbecks Früchte des Zorns“ aus moderner Perspektive auf, eine Analyse zu Exil und Identität — ganz viel Europa also, findet Programmchefin Oana Borş.