Nahost: Gaza wird zum globalen Krisenherd
In unserem Weltpolitik-Feature befassen wir uns mit der heiklen Lage in Nahost und lassen dabei auch einen rumänischen Politikwissenschaftler zu Wort kommen.
Corina Cristea, 17.11.2023, 14:59
Der Raketenbeschuss, die Zerstörung des Grenzzauns, der den Gazastreifen von Israel trennt, das Eindringen in israelisches Hoheitsgebiet — aus der Luft, zu Lande und zu Wasser — und die Massaker in mehreren Kibbuzim und bei einem Musikfestival, das einem jüdischen Feiertag gewidmet war, haben die internationale Gemeinschaft schockiert, denn die Offensive der Terrororganisation Hamas war so hart und überraschend wie nie zuvor. Der 7. Oktober 2023, als die Terroristen bei ihrem Überfall rund 1200 Menschen in Israel töteten, darunter Frauen, Kinder und ältere Menschen, mehrere Tausend verwundeten und mehr als 200 Geiseln nahmen, wird als schwarzer Tag in die Geschichte eingehen. Zudem löste er eine umfassende israelische Reaktion aus, die ihrerseits und zu einer humanitären Krise im Gazastreifen führte.
Israel hat zum ersten Mal seit dem Jom-Kippur-Krieg von 1973 den Kriegszustand erklärt und 300.000 Reservisten einberufen, und Premierminister Benjamin Netanjahu sagte ausdrücklich, das Ziel Israels sei, die Hamas vollständig zu vernichten. Hunderttausende Palästinenser sind aus dem Norden des nur 365 Quadratkilometer langen Gazastreifens in den Süden der Enklave geflohen, während die übrigen entweder auf der Suche nach einer Unterkunft sind, oder unter Strom-, Wasser-, Lebensmittel- und Medikamentenknappheit leiden. Die muslimische Welt ist über das Vorgehen Israels empört und hat in vielen Ländern des Nahen Ostens sowie in Europa und den USA mit zum Teil gewalttätigen Demonstrationen reagiert. Der Antisemitismus in den USA habe nach der Gewalt in Israel und im Gazastreifen historische Ausmaße“ erreicht, sagte der Direktor des FBI, während andere Länder, darunter Großbritannien und Frankreich, ebenfalls vor einem starken Anstieg antisemitischer Vorfälle gewarnt haben.
Die Krise im Nahen Osten wird als Riss im regionalen Sicherheitsgefüge gesehen, und laut einigen Analysten sei deutlich geworden, dass die EU bei der Bewältigung der geopolitischen Krise in ihrer Nachbarschaft nur begrenzte Einflussmöglichkeiten hat, nicht zuletzt aufgrund der Erschöpfung der Ressourcen nach der russischen Aggression gegen die Ukraine. Nach Ansicht von Ștefan Ciochinaru, Universitätsprofessor für Politikwissenschaft, ließen sich die beiden Kriege in Bezug auf die Reaktion Europas zwar vergleichen, jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt, da die politischen Ziele der Aggressoren unterschiedlich seien:
Im Falle der Ukraine ist das Ziel des Aggressors die Zerstörung der europäischen Ordnung und die Vertreibung der USA aus Europa. Denn das ist der Grund, warum Moskau die Integration der Ukraine in die EU und die NATO ablehnt. Putin will, wie er auch unverhohlen erklärt hat, eine Rückkehr zur Situation von 1994, er will Länder in Europa in seiner Einflusssphäre halten, wie es zu Zeiten der Sowjetunion der Fall war. Im Falle der Aggression gegen Israel hingegen richtet sich das Ziel der Hintermänner des Aggressors Hamas wie beim Billard ebenfalls auch gegen die USA. Daher das riesige Netzwerk der Komplizenschaft, das eine Vielzahl arabischer Staaten mit der antiamerikanischen Linken in Europa, mit Russland, mit dem Iran und seinen Vasallen und nicht zuletzt, wenn auch viel subtiler, mit China verbindet. Sie versuchen einfach, die gesamte muslimische Welt gegen die Vereinigten Staaten, gegen den Westen aufzubringen, denn in der strategischen Konzeption derjenigen, die die Weltordnung um jeden Preis umkrempeln wollen, ist Amerika das Hauptziel. Wenn man Amerika zu Fall bringt, kann man den Rest leicht erledigen. Europa ist, strategisch gesehen, ein Zwerg. Japan, Südkorea und Australien würden isoliert bleiben. Der glorreiche Westen würde dann wie eine Sandburg zusammenfallen. Und die Reaktion Europas ist, wie so oft, sehr, sehr kurzsichtig. Seit einem Jahr erleben wir die Folgen der Inkonsequenz in der Haltung und der Reaktion gegenüber dem Krieg in der Ukraine. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Krieg in der Ukraine vor unserer Haustür auf europäischem Territorium geführt wird, und dessen Ausgang wird die Zukunft des europäischen Kontinents mitbestimmen. Was die Reaktion auf den Angriff auf Israel und auf die in unterirdischen Tunnels geplanten Terroraktionen betrifft, so ist die Lage noch schlimmer. Die europäische politische Linke hat sich mit Rechtsextremisten und der eingewanderten muslimischen Bevölkerung verbündet und verurteilt in einer Täter-Opfer-Umkehr den Staat Israel als Aggressor. Währenddessen hat Europa seine eigenen Katakomben, in denen die alte und neue Rhetorik des Antisemitismus, des Antiamerikanismus und der antidemokratischen Gesinnung mehr oder weniger sichtbar weiter schwelt.“
Man könnte sich zu Recht fragen, in was für einer Welt wir heute leben. Vielen Menschen sei klar, führt Professor Ștefan Ciochinaru weiter aus, dass wir in einer Welt leben, die von einem hybriden Krieg heimgesucht wird, der nichts Heiliges an sich hat.
Wir sehen, wie nach dem Flächenbrand im Nahen Osten Lehrer in Frankreich ermordet werden, wie Bahnhöfe und Flughäfen in ganz Europa mit Bomben bedroht werden, wie Davidsterne auf die Häuser von Juden in Berlin gemalt werden, wie jüdische Friedhöfe geschändet werden, wie es in Ländern mit lange bestehenden demokratischen Traditionen zu Kundgebungen kommt, die das Opfer verurteilen und sich mit dem Angreifer solidarisieren. Wir sehen, wie die demokratische Presse in Europa die Verbrechen der Russen auf der Krim, die Verbrechen der Hamas in Israel vergessen zu haben scheint, aber stattdessen sehr besorgt ist über die sogenannten Vergeltungsmaßnahmen der israelischen Armee.“
Unter Verweis auf den seit Beginn des Krieges mit der Hamas deutlich gestiegenen Antisemitismus in der Welt riet Ministerpräsident Netanjahu indessen den israelischen Bürgern, nicht ins Ausland zu reisen. Diese Aufforderung ist jedoch nur schwer zu befolgen, da es an vielen Orten der Welt israelische Unternehmen und Betriebe gibt und der wirtschaftliche Faktor eine wichtige Rolle spielt. Zum anderen hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Zustände in Gaza als unsäglich“ bezeichnet. Es ist zu spät, den Toten zu helfen, aber wir können den Lebenden helfen“, sagte WHO-Chef Tedros Ghebreyesus und rief zu einer humanitären Feuerpause bei den Kämpfen in Gaza auf.