Wird die EU am Brexit zerbrechen?
Ein Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union würde laut Politikexperten den Euroskeptizismus in Europa schüren und auch andere Staaten dazu ermutigen.
Corina Cristea, 22.04.2016, 17:45
Am 23. Juni werden die Briten an die Urnen gerufen, um zu entscheiden, ob ihr Land in der Europäischen Union bleiben soll. Der mögliche Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union sorgt in letzter Zeit weltweit für großes Aufsehen. Selbst seit Gründung der EU hätten die Briten ihren Euroskeptizismus nicht verheimlicht, sogar hochrangige Politiker hätten ihr Bedenken gegen ein erfolgreiches Zusammenwachsen der Union zum Ausdruck gebracht, sagt der Professor und Wirtschaftsexperte Daniel Dăianu:
Die geographische Lage hat sich zweifellos auch auf die geopolitische Lage Großbritanniens auswirken lassen. Die Briten hatten allerdings ihren EU-Beitritt in eigenartiger Weise verhandelt, sie hatten als einzige neue Mitglieder Vorteile erhalten, einer davon der Britenrabatt, d.h., das Land zahlt in den Etat der Europäischen Union weniger als ihm der eigene Haushalt ermöglichen würde, was das Vereinigte Königreich zu einem sogenannten Nettozahler macht. Von daher sollten wir uns von der derzeitigen Stellung Londons nicht überraschen lassen. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Beitritt selber lange auf sich warten ließ. Die Bedingungen sind streng verhandelt worden, jetzt verlaufen sie anders und ich schließe nicht aus, dass sie zum sogenannten Brexit führen. Einen wesentlichen Beitrag trägt dazu auch das weitverbreitete Misstrauen im heutigen Europa und im erfolgreichen Zusammenwachsen europäischer Staaten. Wir erleben schwierige Zeiten.“
Eine von der britischen Tageszeitung The Telegraph“ durchgeführte Umfrage stellt jedoch heraus, dass der Anteil der Briten, die sich gegen den Brexit äußern, auf 53% gestiegen sei und somit um 2% höher gegenüber vorherigen Umfragen liege. Für den Ausstieg Londons aus der Europäischen Union hätten sich demnach 41% der Briten geäußert, der Anteil der Brexit-Befürworter sank somit um 3% gegenüber vorherigen Umfragen. Veröffentlicht wurde die Umfrage, einen Tag nachdem das britische Finanzministerium in einem Bericht die Bürger warnte, wie drastisch die Wirtschaft und damit ihr Einkommen unter einem Austritt aus der EU leiden würden. Die Wirtschaftsleistung wäre um 6% geringer und jeder Haushalt wäre im Durchschnitt um 4.300 Pfund im Jahr ärmer. Die Opposition bestreitet jedoch die Zahlen. Ohnehin bleibe die Situation sowohl für das wirtschaftliche als auch für das politische Milieu unklar und besorgniserregend, die Situation könnte man als gefährlicher Sprung ins Unbekannte“ bezeichnen. Der Professor Daniel Dăianu kommt erneut zu Wort mit Einzelheiten:
Wir erleben äußerst heikle Zeiten, weil das Vereinigte Königreich die älteste Demokratie in Europa darstellt. Sollten die Briten für den Ausstieg aus der EU stimmen, wäre das ein harter Schlag für die Europäische Union und ihr Image, selbst wenn Brüssel es nicht verdient. Das Regierungssystem der EU hat aber eine Fragmentierung des politischen Prozesses innerhalb der Union verursacht. Infolgedessen ist auch das Vertrauen europäischer Bürger in die Gemeinschaft deutlich eingebrochen. Nicht zuletzt konfrontiert sich die Union mit einer Wirtschaftskrise, mit der Flüchtlingsfrage, mit starken Spannungen zwischen Norden und Süden, Osten und Westen. Wir stehen also vor einer äußerst heiklen Lage. Europa hätte jetzt mehr als zuvor Großbritannien gebraucht, denn London spielt eine ausschlaggebende Rolle in Europa. Die britische Wirtschaft ist eine der stärksten Europas. Auch aus geopolitischer Sicht spielt London eine wesentliche Rolle. Großbritannien gleicht zusammen mit Frankreich die wirtschaftliche Macht Deutschlands aus und wir brauchen einen Ausgleich auf dem Kontinent.“
Daniel Dăianu ist der Ansicht, dass ein möglicher Ausstieg Londons aus der EU nicht nur ein schwerer Schlag für die Gemeinschaft wäre, sondern sich ebenfalls auf regionaler und globaler Ebene negativ auswirken lassen würde:
Der Brexit würde zur Fragmentierung anspornen und den Euroskeptikern zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen. Infolgedessen würde das europäische Projekt unter einer Identitätskrise leiden. Wir dürfen nicht vergessen, dass London neben New York eines der wichtigsten Zentren der Finanzmärkte der Welt bleibt. Nicht zuletzt ist Europa in der Flüchtlingsfrage zerstritten und konfrontiert sich auch mit einer eigenen Krise. Das Wirtschaftswachstum ist nicht stabil, ein großer Teil der Wähler sprechen sich gegen traditionelle Parteien aus, während verschiedene Formen von Extremismus immer mehr an Attraktivität gewinnen.“
Politikexperten warnen zudem davor, dass ein möglicher Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union den Euroskeptizismus in Europa schüren und auch andere Staaten dazu ermutigen würde. Die Europäische Union würde am Brexit zwar nicht zerbrechen, aber sie würde bestimmt schwächer, glaubt Daniel Dăianu.