Koresidenz: Warum rumänische Jugendliche spät aus dem Elternhaus ausziehen
Jugendliche in Rumänien – und nicht nur – bleiben recht lange bei ihren Eltern wohnen. Warum das so ist, haben wir im Sozialreport recherchiert und uns dafür mit einem Soziologen unterhalten.
Christine Leșcu, 15.06.2022, 17:30
Europäische Statistiken weisen seit einigen Jahren auf ein Phänomen hin, das sogar im Wachsen begriffen ist — immer mehr junge Erwachsene im Alter von 19 bis 34 Jahren wohnen mit ihren Eltern zusammen. Der Traum von einem unabhängigen Leben schon in jungen Jahren scheint damit für viele Jugendliche in Europa ausgeträumt zu sein, und Rumänien macht dabei keine Ausnahme. Im Jahr 2018 wohnten etwa 42% der rumänischen Jugendlichen im Alter von 25 bis 34 Jahren immer noch bei ihren Eltern, aktuellere Zahlen beziffern diese Kategorie auf 2,2 Mio. junge Menschen. Die Pandemie hat diesen Sachverhalt überhaupt nicht beeinflusst, Soziologen bezeichnen dieses Phänomen als Koresidenz, und Rumänien befindet sich in der Statistik unter den ersten 10 europäischen Ländern mit den meisten Jugendlichen im Alter von über 25 Jahren, die im Elternhaus wohnen. Die Statistik führen Kroatien, Griechenland und die Slowakei an, an letzter Stelle rangieren skandinavische Länder wie Schweden, Finnland und Dänemark. Dumitru Sandu, Soziologe und Hochschullehrer an der Universität Bukarest, hat sich mit dem Phänomen auseinandergesetzt und kennt auch die jüngsten Zahlen und Analysen.
Für das Jahr 2020 zeichnet sich aus europäischen Statistiken folgende Hierarchie ab: In Kroatien lebten 65% der Jugendlichen in Koresidenz mit ihren Eltern, gefolgt von Griechenland mit 60% der Jugendlichen und der Slowakei mit 53%. Rumänien belegte in dieser Statistik mit 43% den 10. Platz. Ein bedeutender Wandel in dieser Statistik fand zwischen 2018 und 2020 hinsichtlich der Aufteilung nach Geschlechtern statt. Unter den Jugendlichen im Alter von 25 bis 34 Jahren, die noch bei ihren Eltern wohnen, machten junge Männer 55% aus, also mehr als die Hälfte. Von den jugendlichen Frauen derselben Alterskategorie lebten nur 29% in Koresidenz mit ihren Eltern. Wir haben es praktisch mit einer Differenz von 27 Prozentpunkten zwischen jungen Frauen und jungen Männern zu tun. Hinsichtlich dieses Geschlechtergefälles belegt Rumänien gleich nach Bulgarien den zweiten Platz in Europa — in Bulgarien beträgt diese Differenz 28 Prozentpunkte. Wir haben es in Europa folglich in dieser Hinsicht nicht mit einem Ost-West-Gefälle, sondern mit einem Nord-Süd-Gefälle zu tun. Südost- und mittelosteuropäische Länder wie Kroatien, Griechenland, Rumänien und die Slowakei ähneln in diesem demographischen Parameter südwesteuropäischen Ländern wie Italien, Spanien und Portugal, Malta kann man auch dazu zählen, und am anderen Ende der Skala befinden sich die nordeuropäischen Länder. Es ist also ein starkes Gefälle zwischen Nord- und Südeuropa vorhanden.“
Als erstes fällt einem die wirtschaftliche Situation ein, wenn man eine Erklärung für das Phänomen der Koresidenz finden will. Die höhere Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen, die hohen Mieten und Kosten für eine eigene Wohnung sind triftige Gründe, um länger im Elternhaus zu bleiben. Eine weitere Ursache könnten aber auch althergebrachte kulturelle Vorstellungen und soziale Rollenbilder sein, insbesondere wenn man die Diskrepanz zwischen Frauen und Männern bei der Koresidenz in Betracht zieht. Der Soziologe Dumitru Sandu erläutert:
Die wirtschaftliche Erklärung ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen; es gibt aber auch kulturelle und soziale Gründe für diesen Sachverhalt, im Sinne, dass in der traditionellen Rollenverteilung der Mann der Hauptverdiener war oder noch ist. Und das fällt ins Gewicht, wenn man soziologische Untersuchungen betreibt. Wir haben den sozialen Entwicklungsstand in den 27 EU-Staaten anhand der Lebenserwartung bei der Geburt gemessen — ein wichtiger Indikator in soziologischen Untersuchungen. Kurz gefasst: In Gesellschaften mit weniger entwickelten sozialen und medizinischen Dienstleistungen für die Bevölkerung neigen die Jugendlichen dazu, über längere Zeit im Elternhaus zu bleiben — insbesondere männliche Jugendliche. Somit lässt sich das Gefälle zwischen jungen Männern und jungen Frauen in Südeuropa im Vergleich zu Nordeuropa erklären.“
Diese Auslegung decke trotzdem nicht das Phänomen der Koresidenz Jugendlicher mit ihren Eltern in seiner Gesamtheit ab, denn gerade Südeuropa mache seit geraumer Zeit einen Wandel durch, und Rumänien sei in dieser Hinsicht ein Paradebeispiel, führt der Soziologe Dumitru Sandu weiter aus:
Insbesondere in den ärmeren Ländern Südeuropas hat in den vergangenen 10–20 Jahren ein beschleunigtes Wachstum des Erwartungshorizonts unter Jugendlichen stattgefunden. Ungeachtet ihres ökonomischen Status und der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes wollen junge Menschen in Rumänien einfach nur wie im sogenannten Westen leben. Manche wandern dann auch aus, um eben im Westen zu leben, viele bleiben aber hier. Daher nehmen viele Jugendliche eine Art Pufferzeit und bestehende soziale und familiäre Netzwerke in Anspruch, bevor sie selber eine Familie gründen, die ihren Ansprüchen genügt. Beispielsweise sieht man in Rumänien immer häufiger die Bemühung, in die Qualität des Kinderkriegens zu investieren. Jugendliche sagen: ‚Wir wollen nicht mehr viele Kinder zeugen, sondern bessere Bedingungen in der Familie, im Haushalt und in der Gesellschaft insgesamt haben, um gerade den weniger zahlreichen Kindern die Möglichkeit zu bieten, eine bessere Ausbildung und einen höheren Lebensstandard zu erreichen.‘ Dieses Aussetzen des Flügge-Werdens ist somit nicht mehr befremdlich, sondern schlicht rational begründet. Die Zunahme an Erwartungen unter Jugendlichen im relativ ärmeren Südeuropa führt dazu, dass sie die Gründung einer Familie und eines eigenen Haushalts so lange verschieben, bis die Lebensbedingungen sich ihrem Ideal nähern.“
Die aktuelle wirtschaftliche Lage in Rumänien lässt erahnen, dass das Phänomen der Koresidenz, des verlängerten Wohnens Jugendlicher im Elternhaus, zumindest in naher Zukunft nicht abnehmen wird.