Menschen im Niemandsland
Wer durch Rumänien mit dem Auto fährt, dem fallen schnell improvisierte Siedlungen am Rande vieler herkömmlicher Orte auf.
Christine Leșcu, 12.04.2018, 14:45
Urbanismusexperten sind schon vor Jahren auf diese Entwicklung aufmerksam geworden. An der Peripherie gestandener Gemeinden entwickeln sich mit der Zeit neue Siedlungscluster. Der Staat kümmert sich kaum um die Menschen, die in diesen Niemandsgebieten leben, findet der Urbanismusforscher Bogdan Suditu: „Das ist ein zunehmendes Phänomen, das aber auf nationaler Ebene weniger gut bekannt ist. Das Entwicklungsministerium hat zwei Studien erstellt, aber das ist auch alles“, sagt Suditu.
Die Menschen hier haben keine Ausweise, keine Anmeldung – sie sind sozusagen nur zur Hälfte Bürger dieses Landes, und das ist nicht OK, meint er. Sie können keine öffentlichen Dienstleistungen in Anspruch nehmen – keinen Strom beziehen, keine Schule besuchen und so weiter. In solchen Satellitensiedlungen wohnen in Extremfällen bis zu 6000 Menschen auf einem Gebiet, das offiziell zu keiner Gemeinde gehört – ein echtes Niemandsland, wo die Kommunen oft auch ihre Abfälle entsorgen.
Vor einigen Jahren wurde der Fall der Bewohner von Pata-Rât bekannt. Diese informelle Siedlung an der Mülldeponie der siebenbürgischen Großstadt Cluj war ein Zuhause für bis zu 300 Familien. Das Cluster entstand im Laufe der Zeit, als arme Familien – vor allem Roma – aus der Stadt evakuiert wurden und sich hier niederließen. Zu ihnen stießen dann Bewohner umliegender Dörfer, die von der Abfallwirtschaft lebten. Als die Stadt Cluj eine umweltgerechte Abfalldeponie bauen wollte, kam es zum Konflikt, denn die Menschen hätten erneut evakuiert werden müssen. Kein Einzelfall, sagt Bogdan Suditu: „Einige solche Gemeinden entstanden, weil der Staat Menschen praktisch gezwungen hat, dorthin zu ziehen und sie dann einfach vergessen hat – zum Beispiel im Gebiet Valea Corbului. Schon 1950 ordnete der Staat die Ansiedlung von 41 Familien – und meldete sich dann 60 Jahre gar nicht mehr bei ihnen. Und heute stellt dieser Staat fest, dass 1300 Menschen dort zum Teil illegal leben. Zu dieser geteilten Schuld müssen wir alle stehen“, glaubt der Urbanismusexperte.
Im kleinen Gebiet Valea Corbului im Kreis Argeş in Südrumänien leben diese Menschen ohne Zugang zu einer normalen Kommunalversorgung – unter ihnen auch Marius Păcuraru, der über ein typisches Problem erzählt. „Zwischen 2001-2002 wurde das Dorf Valea Corbului erweitert. Meine Eltern zogen dorthin und bauten einfach ein kleines Haus, wo ich heute noch wohne. Über dieser Wohnung verlaufen Hochspannungsleitungen von nicht weniger als 40 Tausend Volt. Das gefährdet unsere Gesundheit, Nach zwei Stunden unter diesen Leitungen kriegt man Kopfschmerzen, meine Kinder spüren das auch“, klagt der Mann.
Die Menschen, die unter diesen Hochspannungsleitungen leben, können ironischerweise keinen Strom beziehen. Sie versuchten vor einigen Jahren, einen Antrag beim Versorger zu stellen – aber weil sie keine Eigentumsurkunden für die Häuser haben, mussten sie klein beigeben.
Selbst Bukarest ist von solchen Vorfällen nicht verschont geblieben. Hier gibt es eine solche Problemsiedlung sogar mitten in der Stadt, im Viertel Ferentari im 5. Bezirk, nicht weit vom Nobelviertel Cotroceni, wo auch der Präsidialpalast steht. Auch hier haben viele Mensche keine Papiere und leben deshalb abgeschnitten von der Kommunalversorgung.
Rodica Păun ist wohnhaft in Ferentari und ist auch die zuständige Sozialarbeiterin der Gemeinde. „Das Problem mit fehlenden Papieren – Ausweise und Mietverträge – führt auch zu Probleme mit der Abfallwirtschaft und der Kommunalversorgung. Ohne Papiere können die Leute nicht zur Schule gehen und ohne Schule kriegen diese Leute keinen Job“, erläutert die Frau. Nach Diskussionen mit der Energiegesellschaft ENEL ist es ihr zumindest gelungen, die Stromversorgung für etwa 100 Leute zu arrangieren. Aber für viele ist es schwer, denn sie haben keine Baugenehmigung, keine Kaufverträge, leben also in einem rechtlichen Vakuum.
Der Staat muss endlich das Problem erkennen, fordert der Urbanist Bogdan Suditu. „Diese Erscheinung ist nicht nur für Rumänien spezifisch. Vielerorts in Europa gab es das zu einem Zeitpunkt – in Frankreich, Spanien, Portugal, am Balkan usw. Das Problem wurde irgendwann gelöst, aber nur, weil der Staat es als solches erkannt hat. Das ist die Grundvoraussetzung – dass der Gesetzgeber das Problem erkennt und nach Lösungen sucht. Soweit sind wir in Rumänien noch nicht“, beklagt abschließend der Urbanismusexerte.