Verantwortungsvolle Bürger – aber verantwortungslose Gesellschaft
Eine neulich von der rumänischen Raiffeisen Bank in Auftrag gegebene Studie zum Verantwortungsbewusstsein rumänischer Konsumenten hat überraschende Ergebnisse gezeigt.
Christine Leșcu, 05.09.2018, 17:30
Es ist ein Paradox: 97% der Menschen halten sich selbst für verantwortungsbewusst, aber nur 8% glauben, dass sie in einer verantwortungsbewussten Gesellschaft leben. Aber 89% der Bürger sagten, dass sie eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft empfinden. Was auf einen ersten Blick seltsam erscheint, ist in der Soziologie Alltag, meint der Fachmann: Diese sehr ausgeprägte Dissonanz haben wir auch bei anderen Studien angetroffen, bei denen wir den gesunden Menschenverstand auszuforschen versuchten. Sie nimmt eine einfache Form an: Ich besitze Merkmal X, aber niemand anders oder ganz wenige haben dieses Merkmal ebenfalls. Jeder glaubt, dass er seinen Job macht und sich korrekt verhält“, sagt Barbu Mateescu.
Zum einen habe das zu tun mit einem aus dem Kommunismus überlieferten generellen Misstrauen in die Gemeinschaft, zum anderen mit einer Kombination zwischen einem sehr kritischen Blick auf die Gesellschaft und einer sehr positiven Selbstwahrnehmung, meint er. Bestes Beispiel sei die Wahrnehmung im Umweltschutz. 95% fühlen sich verantwortlich für die Umwelt — aber das Land wird gerade von der EU abgestraft für die fehlerhafte Abfallwirtschaft, so Barbu Mateescu: Die Leute glauben sogar, dass die Verantwortung für die Umwelt wichtiger ist als die für Freunde, Kollegen, Vorgesetzte oder Mitarbeiter. Umwelt belegt in dieser Rangordnung Platz zwei gleich hinter der Familie. Wie der Soziologe aber weiter ausführt, setzten die meisten Befragten das Umweltbewusstsein mit einfachen Alltagshandlungen gleich — wenn sie nach einem Papierkorb suchen, anstatt das Papier auf die Straße zu werfen, haben sie die Umwelt gerettet.
98% der befragten Personen sind der Meinung, dass die Verantwortung gegenüber der eigenen Familie am stärksten ins Gewicht fällt. Überhaupt spielt der enge Umkreis eine herausragende Rolle — 92% fühlen sich gegenüber Freunden verantwortlich. Interessanterweise spielt das Verantwortungsgefühl per se eine große Rolle — 98% glauben, dass sie für den Erfolg relevant ist. Die Erfolgsidee wird also auch aus dieser Perspektive definiert, findet der Soziologe Barbu Mateescu: Der Dreh- und Angelpunkt der rumänischen Gesellschaft ist die Familie und der sehr enge Umkreis: Eltern, Ehepartner, Kinder. Der Zusammenhalt dieser Familie ist ausschlaggebend, damit jemand Erfolg beanspruchen kann.“ Barbu Mateescu fügt an, dass auch die Bildung und Erziehung der Kinder wichtig ist — dem Kind eine Ausbildung zu geben, die ihm dann ausreichend Ansehen und finanzielles Vermögen sichern, gehört ebenfalls zum Erfolg. Für die meisten ist ein anständiges, ausgeglichenes Leben sehr wichtig — sie mögen keine Schulden und wenn sie Schulden machen, wollen sie sie schnellstmöglich zurückzahlen. 9 von 10 Rumänen gaben in der Erhebung an, ihre Schulden pünktlich zu bezahlen. 8 von 10 erklärten, nur so viel auszugeben, wie sie sich leisten können. 6 von 10 sagen, dass sie gerne sparen wollen — aber nur 3 von 10 gelingt das.
Ist aber dieses Bild einheitlich? Nicht unbedingt, glaubt Barbu Mateescu. Die Eigenwahrnehmung des Verantwortungsbewusstseins hängt sehr viel von spezifischen Umständen ab — in einer siebenbürgischen Stadt, wo relativ viel Kapital vorhanden ist und wo es kaum Jobprobleme gibt, sieht es anders aus als in einer auf einen ersten Blick ähnlichen Kommune in der Moldau, wo Arbeitsplätze selten sind. Es ist also schwer, Gemeinsamkeiten zu finden“, sagt Mateescu. Der Soziologe unterstreicht aber einen klaren roten Faden — wo immer die Befragten auch wohnten, die Familie kam immer zuerst.