Fake Maps: Wie das kommunistische Regime Grenzgänger in die Irre führte
Grenzen zu überwinden, gehörte schon immer zum Menschsein. Doch in den kommunistischen Ostblockstaaten gehörte Reisefreiheit nicht zu den Grundrechten, und der Staat machte es einem besonders schwer.
Steliu Lambru, 21.06.2021, 17:30
Das kommunistische Regime scheute keine Mittel, um Kritiker und Oppositionelle mundtot zu machen. Gegen verzweifelte Menschen, die den Weg der Flucht in die freien westlichen Länder wählen wollten, wurde noch brachialer vorgegangen: Wenn sie nicht auf der Grenze sofort erschossen wurden, steckte man die auf der Flucht Gefassten ins Gefängnis — es folgten Verhöre, Einschüchterung, Erpressung oder sogar Folter. Beim Versuch, den Eisernen Vorhang zu durchbrechen, am bildhaftesten durch die Berliner Mauer verkörpert, wurden Menschen kaltblütig erschossen.
In ihrem Bemühen, Flucht und Grenzüberwindung zu vereiteln, wandten die kommunistischen Regime jedoch auch subtilere Methoden an. Im September 1965 beschlossen die Ostblock-Staaten auf einer konsultativen Konferenz in Moskau, die Landkarten der sozialistischen Länder künftig mit Ungenauigkeiten, Verzerrungen oder gar falschen Angaben zu drucken. Damit sollten illegale Grenzgänger in die Irre geführt und in die Fänge der Grenzwächter geleitet werden. Fake Maps und Fallen statt aufsehenerregender Schießereien an der Grenze.
Den dringendsten Bedarf an Fake Maps meldete die DDR — und die gefürchtete Stasi übernahm die Aufgabe ihrer Verlegung. Doch auch die rumänische Securitate stand ihrem ostdeutschen Pendant in nichts nach und eignete sich diese Praxis geflissentlich an. In Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut in Bukarest hat das rumänische Nationalmuseum für alte Karten und alte Bücher unlängst eine Ausstellung eröffnet, die die Methoden der Stasi und Securitate in der Kartenfälschung beleuchtet. Unter den Stichworten Fake Maps — wie Securitate und Stasi die Menschen in die Irre führten“ dokumentiert die Ausstellung, wie die Geheimdienste mit gefälschten Karten Fluchtversuche vereiteln wollten. Kurator der Ausstellung ist der Historiker Adrian Buga — für ihn sind die Fake Maps aus der Zeit vor 1989 ein Sinnbild für die Unterdrückung der Reisefreiheit:
Ich würde Landkarten und Erkenntnis gleichsetzen. Wenn man einen neuen geographischen — meinetwegen auch einen außerirdischen — Raum erschließt, ist Wissen essentiell. Wer dieses Wissen hat, in unserem Fall die räumlichen Karten herausgibt, kontrolliert diesen Vorgang. Wenn man jedoch auch die Information kontrollieren und sie dem Feind vorenthalten will, spielt man ihm gefälschte Information zu. Ein weiterer Aspekt der Fake Maps ist die Orientierung. Will man aus einem Raum herausbrechen, braucht man Orientierung aus glaubwürdigen Quellen. Die vom kommunistischen Staat herausgebrachten Landkarten enthielten vorsätzlich eingebaute Fehler oder Falschstellen, um Fluchtwillige in die Irre zu führen.“
Doch damit nicht genug. Die Fake Maps des kommunistischen Regimes hatten auch die Funktion, die innere Landkarte des Menschen zu manipulieren. Nicht allein die Topographie wurde gefälscht, sondern auch die vermittelte Wahrnehmung der Außenwelt, erläutert weiter der Historiker und Museograph Adrian Buga:
Man kann getrost sagen, dass Fake Maps kennzeichnend sind für geschlossene, totalitäre Regime. Wenn der Staat alles kontrollieren, die Menschen unterdrücken und an einem bestimmten Ort festhalten will, dann muss er Grenzen fälschen und die Wahrnehmung des Ortes und der Außenwelt verzerren. Es gilt, zu vermitteln, wie schlecht es außerhalb der Matrix sei und wie gut man es im eigenen Staate habe.“
Doch wie wurden die Landkarten konkret gefälscht? Adrian Buga sagt, dass man im Grunde akkurat hergestellte Karten vorsätzlich verzerrte:
Es gab natürlich wissenschaftliche Standard-Landkarten, die viel Information über Städte und Ortschaften, Gebäude, Straßen, Beschaffenheit der Erdoberfläche, Flüsse und Höhenunterschiede enthielten. Doch diese topographischen Standardwerke waren geheim, kaum jemand hatte Zugang zu solchen Landkarten, dafür brauchte man schwer zu erlangende Genehmigungen. Für das breite Publikum waren nur touristische Landkarten erhältlich, auf denen bestimmte Gebiete verzerrt oder auch gar nicht dargestellt wurden. Da stand man dann mit einer herkömmlichen Landkarte an einem bestimmten Ort und musste feststellen, dass gar nichts stimmte: Man fand Abhänge oder Höhenunterschiede, die auf der Landkarte gar nicht markiert waren, oder ein Fluss befand sich in Realität an einer anderen Stelle als auf der Karte dargestellt. Das war so konzipiert, damit Menschen, die sich im Grenzgebiet aufhielten, die genaue Beschaffenheit des Terrains nicht erschließen können, und um Fluchtversuche zu erschweren. Und auch, um feindliche Streitkräfte, die in das Land hätten eindringen wollen, in die Irre zu führen.“
Das Wissen um die Landkarten war dem kommunistischen Regime wichtig, führt der Historiker Adrian Buga weiter aus. Zwar habe die Securitate nicht selber Fake Maps hergestellt, jedoch festgenommene sogenannte Republikflüchtige“ äußerst genau verhört:
Wir haben hier in der Ausstellung keine gefälschten Landkarten, sondern Karten mit den üblichen Fluchtrouten. Die Festgenommenen mussten auf Landkarten und in Plänen die genauen Wege ihres gescheiterten Fluchtversuchs einzeichnen. Die Securitate brauchte diese Information über die genaue Topographie der möglichen Fluchtrouten, damit der Staat nachträglich herkömmliche Landkarten entsprechend verzerren konnte, um die Menschen zu entmutigen und weitere Fluchtversuche zu vereiteln. Die üblichen Routen führten über die Westgrenze nach Ungarn und über die Donau nach Jugoslawien, an gewissen Stellen konnte man einen Fluchtversuch wagen. Es gibt viele Zeitzeugen-Berichte darüber, mir fällt z.B. das Buch [des Historikers und Politologen Stejărel Olaru] über die Turnerin Nadia Comăneci und die Securitate ein. Ihre spektakuläre Flucht [im November 1989] über die Grenze zu Ungarn beschreibt sie sehr detailreich. Als Schleuser war ein ortskundiger Hirte herangezogen worden, der aber die genaue Beschaffenheit des Grenzgebiets auch nicht kannte. Und so landeten sie dann mehrmals in Brachen, Böschungen oder an Flüssen, die auch der Schleuser nicht erwartet hatte.“
Die Erforschung der Archive brachte eine weitere Überraschung ans Tageslicht: Abgesehen von der Praxis der Fake Maps stellte das kommunistische Regime auch individuelle Karten oder — besser gesagt — Karteien her. Zehntausende Oppositionelle oder Regimekritiker wurden anhand sogenannter Bewegungsprofile genauestens überwacht und kartiert. Man kannte Wohnung, Aufenthaltsorte und tägliche Routinen der Überwachten und ihrer Familien auf den Punkt genau.
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