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Vergangenheitserforschung: Nostalgie verzerrt die Wahrnehmung

Zwei Historiker haben 22 rumänische Persönlichkeiten über ihre Kindheit im Kommunismus befragt. Das Ergebnis der Gespräche bearbeiteten sie in einem Buch und einem Dokumentarfilm.

Vergangenheitserforschung: Nostalgie verzerrt die Wahrnehmung
Vergangenheitserforschung: Nostalgie verzerrt die Wahrnehmung

, 14.11.2016, 17:51

Die Menschen glaubten, die Geschichte halte die Ereignisse so fest, wie sie sich in Wirklichkeit zugetragen haben. Als sie die Geschichte zu einem akademischen Fach machten, glaubten sie, dass hier die Wahrheit zu finden sei. Die Philosophie der Geschichte sagt, dass die Geschichte, das Gedächtnis und die Wahrheit nur Fragmente von dem seien, was den Individuen und der Gemeinschaft gehörte. Die Nostalgie, die wir manchmal verspüren, bringt uns in eine Vergangenheit, die wir beschönigen, egal wie sie in Wirklichkeit war.



Die Erinnerungen an den Kommunismus sind nur schwer einzuordnen und zu bewältigen, zumal sie einigerma‎ßen von der Nostalgie humanisiert wurden. Nach den Jahrzehnten der kommunistischen Diktatur, nach über 25 Jahren seit dem Fall des kommunistischen Regimes und nach zahlreichen Studien über die katastrophalen Fehler des Kommunismus neigen die Menschen, sich durch Nostalgie mit dem Kommunismus und seinen Fakten zu versöhnen. Die Generation Stets voran!“ (Pioniergru‎ß, der dem in der DDR üblichen Seid bereit! Immer bereit“ entspricht — Anm. d. Red.) ist die Kindergeneration der 1970er-80er Jahre, die heute erwachsen ist. Manchmal wird sie mit der Generation der Dekret-Kinder verwechselt, die in Folge des Dekrets Nummer 770 aus dem Jahr 1966, das die Abtreibungen verbot, auf die Welt kam. Diese Generation erlebt heute die Nostalgie. Es geht um die Nostalgie nach der Jugend und nicht um die Nostalgie nach dem kommunistischen Regime.



In den 90er Jahren betrachtete die Generation Stets voran!“ die Nostalgie der Alten mit Gleichgültigkeit und Empörung. Mit der Zeit wurde auch die Generation Tot înainte!“ (Stets voran!“) nostalgisch. Zuerst noch verspielt, dann immer ernster. Die Historiker Simona Preda und Valeriu Antonovici haben 22 Persönlichkeiten über ihre Kindheit befragt, was zur Herausgabe des Buches Stets voran! Erinnerungen aus der Kindheit“ und zur Produktion eines Dokumentarfilms führte. Simona Preda sprach über die Mühe, mit den Befragten über ihre Erinnerungen zu sprechen, und über die Gefahr, eine verzerrte Wahrnehmung der Vergangenheit zu bekommen:



Was ist so schwierig daran, über die eigene Kindheit zu sprechen? Es mag vielleicht eine Binsenwahrheit sein, aber es ist tatsächlich schwer, über die eigene Kindheit zu sprechen, besonders wenn die Kamera läuft. Es ist kompliziert, sich in eine Vergangenheit zurückzuversetzen und Erinnerungen zu wiedergeben, die man nach so langer Zeit mit einer anderen ideologischen Einstellung betrachtet, die viel später entstanden ist. Wenn man mit Erwachsenen Gespräche führt, mit Studien zu tun hat oder ideologischen Einflüssen ausgesetzt ist, riskierst man, eine A-posteriori-Einstellung gegenüber Ereignissen zu entwickeln, die man in der Kindheit unter ganz anderen Bedingungen erlebt und gefühlt hat. Die Hauptfalle, in die man bei Vergangenheitserforschung dieser Art tappen kann, ist die späte Befragung, wobei die Antworten letztendlich von dem Erwachsensein kontaminiert sind. Die Erinnerungskultur und die mündliche Geschichte werden immer von der Zeit beeinflusst. Wenn es um Geschichte, aber auch wenn es um unsere eigene Person geht, arbeiten wir nur mit Deutungen. Wir können die damaligen Realitäten oder die eigene Vergangenheit nie so festhalten, wie wir sie damals aufgefasst haben, mit all dem, was wir damals für gut oder schlecht oder gar au‎ßerordentlich hielten. Eine ganzheitliche Zurückgewinnung der Geschichte ist nicht möglich, egal wie sehr wir uns das wünschten.“




Die Sehnsucht nach der Kindheit während des Kommunismus ist leichter zu verstehen als andere Nostalgiearten, weil sie im Gedanken in den Lebensabschnitt der Unschuld und der Unbeschwertheit führt, als die Welt in der Kindeswahrnehmung schöner und besser war und der Mensch mit Liebe und Fürsorge umhüllt wurde. Die quasimilitarisierte Struktur der Pionierorganisationen, die rote Fahne, der Pioniergru‎ß, die Schuluniform, die Schulbücher — kurzum die ganze Welt eines Kindes, das 1970-1980 geboren wurde, erfreut sich heute einer gütigen, milden Wahrnehmung, obwohl sie den Lebensstil unter einem politischen Regime verkörperte, das seine Bürger drillte und demütigte. Simona Preda hat sich mit ihrer eigenen Kindheit auseinandergesetzt und ist sich bewusst, dass man sich die alten Zeiten zwar nicht zurückwünscht, aber die Erinnerung daran kann man auch nicht einfach ausklammern.



Es gibt die Möglichkeit, dass wir nur auf das zurückbesinnen, was uns am besten gefallen hat oder gefallen hätte. Wir denken uns in eine Rolle zurück, die wir uns damals zu spielen wünschten. Hier spielt die Zeit wieder einmal eine Rolle. Ich glaube, die Protagonisten unserer Befragung waren ehrlich. Es gibt Momente, in denen wir uns Fragen über bestimmte Aspekte der Vergangenheit stellen. Ich glaube nicht, dass anhand solcher Erinnerungsgespräche Diagnosen oder soziologische Studien erstellt werden können, nicht nach drei oder drei‎ßig Gesprächen, auch nicht nach dreihundert, drei Millionen oder 23 Millionen, wieviel Einwohner Rumänien einmal hatte. Jeder hat seine eigene Kindheit, seine eigenen nostalgischen Momente erlebt, jeder hat glorreiche und demütigende Momente individuell erlebt. Es gibt hier allgemein gültiges Modell. Wie es jemand ausdrückte: Ich bin nicht im Kommunismus aufgewachsen, sondern habe als Kind meine Kindheit erlebt.“




Die Generation Stets voran!“ ist die Generation, die die historische Chance hatte, sich vom politischen Regime, das das Volk unterdrückte, zu befreien. Sie ist jene Generation, die Rumänien zu dem machte, was es heute ist, eine Generation, die — trotz aller Nostalgie — noch ein Wörtchen mitzureden hat.

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