Rumänien im Ersten Weltkrieg: Wie sich die Wahrnehmung historischer Ereignisse ändert
Nach zwei Jahren der Neutralität trat Rumänien am 2. August 1916 in den Ersten Weltkrieg auf Seite der Entente ein. Der Eintritt fand auf Druck Frankreichs, dem bedeutendsten und traditionellen Alliierten Rumäniens, statt.
Steliu Lambru, 19.09.2016, 18:41
Nach zwei Jahren der Neutralität trat Rumänien am 2. August 1916 in den Ersten Weltkrieg auf Seite der Entente ein. Der Eintritt fand auf Druck Frankreichs, dem bedeutendsten und traditionellen Alliierten Rumäniens, statt. Die Schlacht bei Verdun, die Erfolge der Offensive der russischen Armee führten ebenfalls dazu. Unter dem Slogan Jetzt oder nie!“ akzeptiert Rumänien, in den Krieg einzutreten. Dem aus den Vereinigten Donaufürstentümern hervorgegangenen jungen Königreich wurde versprochen, dass nach der Friedenserklärung die mehrheitlich von Rumänen bewohnten österreich-ungarischen Gebiete dem Rumänischen Königreich einverleibt werden. Das späte Eintreten Rumäniens in den Krieg hatte zwei Erklärungen. Eine erste war der Wunsch des deutschstämmigen Königs Karl I., dass Rumänien an Seite Deutschlands kämpfen soll, der von der politischen Klasse nicht akzeptiert wurde. Die zweite Erklärung war das Misstrauen der rumänischen Armee in die Allianz mit Russland nach der unglücklichen Erfahrung im Krieg von 1877-1878.
Rumänien hat in den zwei Konfliktjahren 535.700 Soldaten verloren, das bedeutete 71% der Armee und belegt den vierten Platz in der schwarzen Rangliste nach Österreich-Ungarn (90%), Russland (76%) und Frankreich (73%). Hinzu zählen 300.000 Zivilisten, darunter 250 Ärzte und 1.000 Sanitäter, die an Entertyphus gestorben sind. Nach dem Ersten Weltkrieg bekam Rumänien die versprochenen Territorien und nannte sich fortan symbolisch Großrumänien“.
Die Opfer, ihre Nachfolger, die Körperbehinderten genossen gleich nach dem Krieg die Aufmerksamkeit der Gesellschaft. Die Wahrnehmung der Geschichte war weniger triumphalistisch — noch standen die Menschenopfer und der Wiederaufbau der Gesellschaft im Vordergrund — und wurde erst mit der Zeit aggressiver. Die politischen Ideen trugen dazu bei, dass die menschliche Dimension abstrakteren Begriffen wie Patriotismus und nationales Interesse Platz machte. Die Tragödien des Ersten Weltkrieges wurden nicht mehr als Tragödien der Menschheit betrachtet, sondern als Opfer fürs Vaterland. Das war auch der Fall Rumäniens, das — wie andere Länder auch — die Etappen der emotional-militanten Geschichtsschreibung durchmachte. Die nationale“ Geschichtsschreibung kam während des kommunistischen Regimes zu ihrem Höhepunkt, als die Bedeutung der historischen Ereignisse, die vor 100 Jahren stattgefunden haben, stark verzerrt wurden.
Der Historiker Răzvan Pârâianu von der Petru-Maior-Universität in Târgu Mureş ist der Auffassung, dass der Eintritt Rumäniens in den Ersten Weltkrieg im damaligen internationalen Kontext betrachtet werden muss und dass die Beweggründe der Menschen von damals nicht nach heutigen Maßstäben beurteilt werden dürfen:
Wenn wir die Vergangenheit betrachten, dürfen wir unsere Hände nicht in Unschuld waschen. Der Sinn, die Bedeutung, die Semantik der einfachsten Wörter sind nicht mehr die gleichen. Viele meinen, das sei Relativismus. Es geht aber nicht um Relativismus. Es geht darum, dass wir die Sachen anders als unsere Urgroßeltern, Großeltern, Eltern sehen, die Idee der Nation, die Idee des Vaterlandes anders verstehen. Der französische Soziologe Bernard Paqueteau, der in den 1990er Jahren Rumänien besuchte, hat einen Beitrag über den Gefrierschrank der falschen Ideen geschrieben. Es war die Zeit, als der amerikanische Journalist Robert D. Kaplan über die Geister des Balkan [im gleichnamigen Buch — Anm. d. Red.] geschrieben hat. Paqueteaus Beitrag war die Reaktion auf die Meinung, dass das kommunistische Regime die Geister der Vergangenheit in einen Gefrierschrank gesteckt hatte. Nach 1989 hat jemand den Stecker rausgezogen, so dass die Geister auftauten und nun in der Gesellschaft wieder herumspukten. Paqueteau sagt ganz klar, dass es nicht die gleichen Geister seien und dass es keinen Gefrierschrank gab. Das kommunistische Regime hat nicht nur den Sinn der Wörter verdreht, sondern auch die Gesellschaft, die die Bedeutungen aufnimmt, radikal verändert.“
Man sagt, Wörter erschaffen die Wirklichkeit. Ihre Bedeutung ist so stark, dass sie an der Bildung einer Meinung entscheidend mitwirken. Răzvan Pârâianu ist der Auffassung, dass ein Historiker glaubhafte Interpretationen des Ersten Weltkriegs formulieren muss und sich nicht von Ideologien beeinflussen lassen darf:
Zwischen 1916 und 2016 gibt es eine riesige Schlucht, die den Sinn der Wörter und der Taten ändert. Die Begriffsgeschichte von Reinhard Koselleck zeigt, dass die Semantik in direktem Verhältnis zu den Veränderungen in der Gesellschaft, zu den Veränderungen, die das politische Leben bringt, steht. Es geht nicht um eine sofortige Veränderung einer Bedeutung, der Bedeutungswandel erscheint später. Wir müssen die Veränderungen aufmerksam verfolgen, denn sie treten mit einer gewissen Verspätung in Erscheinung. Der niederländische Historiker Frank Ankersmit sagt, dass die narrative Sprache keine Gegenstands-Sprache sei. Ankersmit meint damit, der Archäologe findet alte Gegenstände, er gräbt sie aus, doch der Gegenstand bleibt ein Gegenstand. Wir arbeiten nicht nur mit Gegenständen, wir arbeiten mit Begriffen, mit Bedeutungen, mit der Rolle, die diese Gegenstände hatten. Stellen wir uns vor, dass ein Archäologe im dritten Jahrtausend eine Flasche finden wird. Dieser kann glauben, dass wir aus der betreffenden Flasche Wein getrunken haben. Vielleicht war aber die Flasche eine Lampe, oder vielleicht wurde die Flasche für die Herstellung eines Molotow-Cocktails gebraucht. Die Form ist die gleiche, die Zweckmäßigkeit ist aber ganz verschieden. Wäre es nicht peinlich, wenn unser Archäologe der Zukunft ein Lampenglas für eine Brandflasche halten würde? Die Form dieser Gegenstände ist ja dieselbe, der Zweck macht erst die Unterscheidung.“
Die Zeitungen, die Tagebücher, die Briefe, die persönlichen Notizen aus dem Ersten Weltkrieg zeugen von hunderttausenden Rumänen, die mit dem Einzug in den Krieg den Weg ins Unbekannte betraten. Viele kehrten nicht mehr zurück. Am Ende des Ersten Weltkrieges war Großrumänien die Belohnung für ihr Opfer.