Soziologe Claude Karnoouh: „Religion wird in Rumänien viel zu formalistisch erlebt“
Heute stellen wir Ihnen den in Frankreich geborenen Soziologen Claude Karnoouh vor, der seit mehr als 40 Jahren in Rumänien lebt.
Steliu Lambru, 09.08.2017, 17:45
Der am 25. März 1940 in Paris geborene Anthropologe und Soziologe Claude Karnoouh lebt seit 1973 in Rumänien und ist einer der bekanntesten Vertreter der rumänischen Soziologie. Sein intellektueller Werdegang begann aber mit einem Studium der Naturwissenschaften (Physik und Chemie) an der Sorbonne, von 1959 bis 1965. Dann entschied sich Karnoouh für Geisteswissenschaften und studierte von 1966 bis 1969 Philosophie, soziale Anthropologie, Soziologie und Linguistik an der Universität Paris X Nanterre. Dazu sagte Claude Karnoouh:
Nachdem ich meinen Militärdienst abgeschlossen hatte, studierte ich Naturwissenschaften, insbesondere Physik und Chemie. Ich machte auch meinen Abschluss und wurde von einem Großunternehmen als Forschungsingenieur in einem Labor eingestellt. Ein Jahr lang arbeitete ich dort, ich wurde gut bezahlt, aber ich langweilte mich fürchterlich. Das Studium an der Sorbonne hatte mir gut gefallen, aber die Arbeit… es war in etwa Klempner-Arbeit auf höherem Niveau, das interessierte mich überhaupt nicht. Ich war nicht gut genug, um ein großer Physiktheoretiker zu werden, und wenn ich nicht sehr gut werden kann, interessiert mich die Sache nicht mehr. Daher nahm ich ein Studium im Bereich Geisteswissenschaften auf — ich unterrichtete Physik und Chemie an einem Gymnasium, und parallel dazu studierte ich Soziologie, soziale Psychologie, Ethno-Anthropologie, Wirtschaft und Linguistik. Und ich besuchte auch einen Philosophie-Kurs.“
1970 wurde Claude Karnoouh Forscher beim Centre National de la Recherche Scientifique und unterrichtete auch an den Universitäten Paris X Nanterre, Sorbonne, Gand (Belgien), Charlottesville (Virginia, USA), Urbino (Italien) und ELTE (Budapest, Ungarn) und am Institut National des Langues et Civilisations Orientales (INALCO) in Paris. 1973 ließ er sich in Rumänien nieder und machte Ethnographie- und Folklore-Forschungen im Dorf Breb, Kreis Maramureş. Während der kommunistischen Zeit wurde er von der Geheimpolizei Securitate bespitzelt. Nach der Wende 1989 wurde Claude Karnoouh Gastprofessor an der Babeş-Bolyai“-Universität in Cluj, wo er von 1991 bis 2002 einen Kurs über politische, kulturelle und wirtschaftliche Aspekte des späten Modernismus im Postkommunismus hielt. Zurzeit ist er Gastprofessor an der Nationalen Universität der Künste in Bukarest.
Claude Karnoouh veröffentlichte 6 Bücher und mehr als 100 Fachartikel und Essays in den Bereichen kulturelle und politische Anthropologie, Kulturphilosophie und politische Philosophie. Er fühlt sich Rumänien sehr verbunden und ist ein guter Kenner der Sitten und Traditionen seiner Wahlheimat, wo er seit den 1970er Jahren lebt. Die religiösen Rituale bei den wichtigsten Festen der Christen aller Konfessionen dienen dazu, die soziale Zugehörigkeit zu bestätigen, meint Claude Karnoouh. Er selbst kommt aus einer französischen Familie jüdischer Abstammung und war, dem Beispiel seiner Mutter folgend, zum Calvinismus übergetreten. Über die religiösen Rituale im heutigen Rumänien sagte Claude Karnoouh:
In Bukarest ist das Osterfest sehr städtisch geworden. Gleich nach dem Gottesdienst am ersten Osterfeiertag, bei dem die speziell dazu gekochten Gerichte gesegnet werden, grüßen die Gläubigen einander und preisen die Auferstehung Christi. In dem Stadtbezirk, wo ich wohne, gehe ich zusammen mit einigen älteren Damen zum Ostergottesdienst in eine benachbarte Kirche. Das ist für mich eine Geste der Zugehörigkeit — so zeige ich, dass ich einer Gemeinde angehöre. Bei den jungen Leuten in der Stadt macht sich aber ein übertriebener religiöser Formalismus spürbar. Ich weiß, dass im byzantinischen Glauben das Ritual grundlegend ist — die gesamte byzantinische Theologie konzentriert sich auf zwei Elemente: Ikonen und Gottesdienst. Das ist mehr als ein Gottesdienst, es ist eine Konzentration der Theologie. Meiner Meinung nach bestehen die Orthodoxen zu sehr auf das Ritual und vergessen dabei den tiefen Hintergrund des Glaubens.“