Schlusslicht mit Chancen auf Verbesserung
Eine aktuelle Studie zeigt, dass 59 % der Rumänen die Digitalisierung für vorteilhaft halten und 52 % glauben, dass sie sich positiv auf ihre Lebensqualität auswirkt. Dennoch liegt Rumänien in in nahezu allen relevanten Kategorien auf dem letzten Platz innerhalb der Europäischen Union. So hatten 2024 im EU-Durchschnitt 70 % der Bürger mindestens einmal in den vorangegangenen zwölf Monaten eine Website oder App einer staatlichen Einrichtung genutzt – in Rumänien waren es lediglich 25 %. Noch deutlicher zeigt sich der Rückstand beim digitalen Kompetenzniveau: 2023 verfügten EU-weit durchschnittlich 55,6 % der Bürger über überdurchschnittliche digitale Fähigkeiten, in Rumänien waren es weniger als 28 %. Auch bei der Digitalisierung von Unternehmen belegt Rumänien den letzten Platz: 72 % der rumänischen Firmen wiesen ein sehr niedriges Digitalisierungsniveau auf, während der EU-Durchschnitt bei 41 % lag.
Iulia Hau, 26.03.2025, 16:23
Das Edge Institute ist der erste rumänische Thinktank, der sich die digitale Transformation in den kommenden zehn Jahren zum Ziel gesetzt hat – mit dem Anspruch, Rumänien auf EU-Niveau zu bringen. Bei der Auftaktveranstaltung des Instituts wurde wiederholt betont, dass Digitalisierung nicht nur eine technische Angelegenheit sei, sondern sich in erster Linie um den Menschen drehe. Sie schaffe Planbarkeit und Transparenz, ermögliche gleichen Zugang zu Informationen – und vor allem zu öffentlichen Institutionen. Victor Guzun, Berater für digitale Transformation, ehemaliger Botschafter der Republik Moldau in Estland und Mitglied im Vorstand des Edge Institute, lebt seit 16 Jahren in Estland – dem digitalisiertesten Land der Welt – und erklärt, warum er den Begriff „Digitalisierung“ für überstrapaziert hält und weshalb der Mensch stets im Mittelpunkt digitaler Bemühungen stehen muss:
„Digitalisierung bedeutet, wie wir verfügbare Technologien nutzen können – jeder von uns: das Internet, unser Telefon oder unseren Computer – und auch die Möglichkeit, mit jedem Menschen auf der Welt in Verbindung zu treten. Es geht darum, wie wir diese Technologien, die allen zur Verfügung stehen und günstig oder sogar kostenlos sind, in unserem Sinne verwenden können, um Abläufe für alle einfacher und effizienter zu gestalten.
Es geht darum, die Maschinen für uns arbeiten zu lassen, damit wir unser Leben einfacher machen. Wahrscheinlich gibt es keinen Konsens darüber, was Digitalisierung ist – sie betrifft nämlich wirklich jeden. Deshalb sollte und kann auch jeder in Rumänien von Digitalisierung profitieren.
Eine gewisse Überstrapazierung des Begriffs vermute ich, weil es das Vorurteil gibt, dass Digitalisierung nur für bestimmte Leute ist. Dass nur manche davon profitieren oder sich damit befassen dürfen, während andere nicht Teil dieser Gleichung sind – was völlig falsch ist. Digitalisierung ist eine Frage der Menschen, und der Mensch muss im Zentrum dieses Prozesses stehen.
Digitalisierung wird meist nur von Ministerien betrieben oder von spezialisierten Abteilungen oder Leuten mit sehr tiefgehendem Fachwissen – was erneut falsch ist. Wenn nämlich nur die Ministerien die Digitalisierung vorantreiben und dabei nicht berücksichtigen, dass der Mensch im Zentrum stehen muss, dann werden ihre digitalen Lösungen nicht den Bedürfnissen der Menschen entsprechen. Und die Menschen werden sie folglich nicht nutzen. Denn, wie gesagt, Menschen wollen Prozesse vereinfachen und effizienter gestalten – aber wenn diese Lösungen die Dinge eher verkomplizieren, wird das Ziel verfehlt.“
Victor Guzun ist zudem der Meinung, dass Internetzugang ein soziales Grundrecht sein sollte, von dem alle profitieren können. Die Digitalisierung einer Gesellschaft müsse Hand in Hand gehen mit der flächendeckenden, diskriminierungsfreien Bereitstellung von hochwertigem Internetzugang. Zu den Vorteilen, die eine zu 100 % digitalisierte Gesellschaft wie Estland genießt, zählt der Experte unter anderem: die Möglichkeit, online zu wählen – egal, wo sich jemand befindet; der unmittelbare Zugang zu vollständigen Patientenakten, was in Notfällen lebensrettend sein kann; der Zugriff auf schulische Leistungen der Kinder inklusive grafischer Entwicklungsdarstellungen; sowie die komplette Online-Verwaltung eines Unternehmens – ohne jeglichen Kontakt mit staatlichen Behörden. Obwohl Estland sogar die rein digitale Abwicklung von Verträgen – etwa Immobiliengeschäfte, Eheschließung oder Scheidung – ermöglicht, können all diese Vorgänge auf Wunsch weiterhin auch am Schalter erledigt werden. Entscheidend, so Guzun, sei, dass der Einzelne die Wahl hat.
Die Fachleute des Edge Institute zeigen sich zuversichtlich, was Rumäniens Chancen auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft angeht. Als Beispiel nennen sie die Ukraine, die zu Beginn der russischen Invasion rasch eine Lösung für die digitale Ausstellung von Pässen entwickelte.
„Als die direkte militärische Aggression Russlands begann und etwa sieben Millionen Menschen ihr Land verließen und viele davon auch nach Rumänien kamen, hatten vele ihre Pässe oder Dokumente zu Hause vergessen, weil die Geschwindigkeit des Vormarschs enorm war. Und so wurde innerhalb weniger Wochen ein ganzes Konzept zur rechtlichen Anerkennung digitaler Dokumente entwickelt – nutzbar direkt vom Smartphone.“
Auch Rumänien habe die Chance, in diesem Bereich voranzukommen, sagt Victor Guzun:
„Rumänien kann einen riesigen Sprung machen, wenn all diese Faktoren berücksichtigt werden – und genau das möchte Edge erreichen. Wir wollen als Vermittler den staatlichen Institutionen helfen, diesen Sprung zu vollziehen. Das ist möglich, wenn wir gut zusammenarbeiten. Wir sind ehrgeizig – ich weiß, unser Entwurf klingt optimistisch, aber es gibt Gründe dafür. Rumänien hat alle Voraussetzungen, um sich theoretisch reht schnell zu einer digitalen Gesellschaft zu entwickeln. Es braucht nur mehr Abstimmung und Zusammenarbeit. Edge will dabei mit unterschiedlichen Partnern agieren: staatliche Akteure, private Akteure, das Bildungssystem, das Gesundheitswesen und viele andere Bereiche.“
Victor Guzun betont abschließend, dass jeder Digitalisierungsprozess von den konkreten Bedürfnissen und Herausforderungen der jeweiligen Gesellschaft ausgehen müsse – und nicht darauf abzielen dürfe, einfach nur Lösungen aus anderen Ländern wie Estland zu übernehmen.