Rumänische Schulbehörden ignorieren Bullying
Kinder werden in unserer Gesellschaft längst nicht mehr allein in der Familie sozialisiert. Eltern stellen mit der Zeit entgeistert fest, dass in der Schule und im Freundeskreis Gewalt zum Alltag ihrer Kinder gehört.
Christine Leșcu, 01.06.2016, 17:55
Bullying gehörte in der gesellschaftlichen Diskussion bisher eher zu den Randthemen, rückte aber zunehmend in den Mittelpunkt, je mehr sich Eltern für den Alltag ihrer Kinder interessierten. Die NGO Rettet die Kinder“ hat eine umfangreiche soziologische Studie zu dieser Frage vorgelegt, in der Experten zu mehreren Schlüssen kommen — in erster Linie besteht eine Verbindung zwischen der Aggressivität eines Kindes und die von Erwachsenen. Die Psychologin Diana Stănculeanu, eine der Autorinnen der Studie, erklärt, warum es dazu kommt:
Am häufigsten ist Bullying ein gelerntes Verhalten und es besteht ein relativ hoher Zusammenhang zwischen der Aggressivität unter Kindern und dem Missbrauch, dem sie ausgesetzt sind — vor allem in der Familie. Einfacher ausgedrückt ist es sehr wahrscheinlich, dass sich zuhause geschlagene Kinder in der Schule als Täter verhalten oder, weil sie Gewalt gewöhnt sind, diese leichter akzeptieren und Vorfälle nicht anzeigen, also zu perfekten Opfern werden.“
Aus der Sicht vieler Psychopädagogen sind in einer Bullying-Situation die Kinder — selbst die Täter — alle Opfer. Die Täter spielen das Verhalten in ihrer Familie einfach an der Schule nach: Sie schüchtern Kollegen ein durch wiederholte Beleidigungen, durch geplante körperliche und verbale Gewalt, durch Ausschluss aus der Gruppe. Bullying erscheint zwar auch im Grundschulalter, entwickelt sich aber besonders in den Teenagerjahren. Rettet die Kinder“ befragte deshalb insbesondere Kinder in diesem Alter und natürlich Eltern solcher Kinder. Der Soziologe Ciprian Grădinaru, ebenfalls Autor der Studie, führt aus, zu welchen Vorfällen es zumeist kommt:
Es sind vor allem Verhaltensweisen, die auf Ausgrenzung abzielen: Wir spielen nicht mehr mit dir; du darfst nichts mit uns unternehmen. Der nächste Schritt hat dann mit einzelnen Episoden körperlicher Gewalt zu tun, dann sind Erniedrigungen und Zerstörung persönlicher Dinge dran und am Ende steht dann wiederholte körperliche Gewalt.“
Die Psychologin Diana Stănculeanu achtete schwerpunktmäßig auf die soziale Ausgrenzung durch das Streuen bösartiger Gerüchte und Lügen. Diese Form des Bullying grassiert im Internet. Opfer sind in der Regel Kinder, die sozusagen anders“ sind, sagte Diana Stănculeanu.
Dieses Anderssein ist unterschiedlich. Es kann mit dem Aussehen zu tun haben — hier zielt Bullying auf übergewichtige Kinder ab, auf solche mit offensichtlichen Behinderungen. Auch die Kleidung gehört dazu. Dann gibt es Unterschiede in der Ausstattung mit neuen Gadgets wie Smartphones, Schultaschen usw. Aber es kann auch am Verhalten liegen. Um Opfer zu werden, reicht es manchmal, zurückgezogener zu wirken, schüchterner, nicht sehr beliebt unter den Kollegen zu sein. Ein anderes Mal reicht es, der Klassenprimus zu sein, um negative Aufmerksamkeit zu erregen. Bevorzugte Ziele sind auch Kinder mit geistigen Problemen, die dann zu einem linkischen gesellschaftlichen Verhalten und zu emotionalen Schwierigkeiten führen — Kinder also, die leicht weinen, nicht schnell Freundschaften knüpfen, vor der Klasse stottern und leicht erröten.“
Der Psychologe Ciprian Grădinaru bemerkte, dass Täter, Zeugen und Opfer Bullying ganz unterschiedlich wahrnehmen — und das sei statistisch belegbar:
Zwei von zehn Kindern berichteten, dass sie aus einer Gruppe ausgeschlossen wurden oder sie selbst ein anderes Kind ausgeschlossen haben. 20% haben angegeben, ein anderes Kind erniedrigt zu haben. 16% sagten aus, ein anderes Kind geschlagen zu haben. Hingegen meinten 32%, von anderen geschubst worden zu sein, 39%, dass sie sogar leicht verletzt wurden, und 16%, dass sie wiederholt geschlagen wurden. In letzter Hinsicht besteht also eine Übereinstimmung. 75% der Kinder erkennen, dass an ihrer Schule Gewalt besteht, 58% können sie in der eigenen Klasse erkennen, 70% — sehr viel — geben Online-Bullying zu und 50% haben damit auch im Freundeskreis zu tun.“
Besonders aufschlussreich ist aber die Ansicht der Kinder zum Umgang der Erwachsenen mit Bullying, glaubt Diana Stănculeanu:
Im rumänischen Bildungssystem ist es leider so, dass Lehrer oder andere Erwachsene im schulischen Umfeld nur selten als passende Kontaktperson für eine Lösung angesehen werden. Viele Kinder sagten uns, dass die Lehrer ihnen sogar vorwerfen, ihre Kollegen zu verpfeifen, wenn sie einen Vorfall melden — Petzen sei nicht schön, sagen die Lehrer. Andere Lehrer sagen, dass Bullying sie nichts angeht, wenn es nicht in der Klasse selbst passiert. Und dort findet es selten statt — zu Zwischenfällen kommt es eher auf dem Flur, auf den Toiletten, im Schulhof oder in den Straßen im Umkreis der Schule. Die Lehrer sehen das nicht als ihren Wirkungskreis an.“
Und obwohl die Studie von Rettet die Kinder“ sowohl die Schwere des Phänomens als auch dessen Verbreitung attestiert, gibt es von den relevanten Stellen keine Strategie zur Bekämpfung von Bullying — obwohl auch die WHO es als großes Risiko für die geistige Gesundheit von Kindern und Teenagern einstuft.