Religionsfreiheit in der Pandemie: Wie weit wurde sie eingeschränkt?
Im Zusammenhang mit den Maßnahmen der Behörden zur Bewältigung der Pandemie kommt es in Rumänien zu einer Radikalisierung der Positionen für oder gegen die mehrheitlich orthodoxe Kirche sowie die Religionsfreiheit.
Roxana Vasile, 16.12.2020, 17:30
Wer hat hier Recht? Ist es der Staat, der zur Pandemiebekämpfung, wenn auch nur vorübergehend, die Grundrechte und -freiheiten einschränkt? Oder sind es die Anhänger des Prinzips einer roten Linie, die nicht überschritten werden sollte? Das ist das Thema einer Diskussion mit Cătălin Raiu, Rumäniens Vertreter in der OSZE-Expertengruppe für Religionsfreiheit und Präsident von FoRB Rumänien, einer Vereinigung, die sich für Religionsfreiheit einsetzt.
Die Religionsfreiheit ist in dieser Zeit der Pandemie überall verletzt worden, weil alle Staaten strenge Maßnahmen außerhalb der internationalen Normen ergriffen haben, die auch genau vorschreiben, wie der Staat in Krisensituationen eingreifen kann, um die Einschränkung des religiösen Lebens demokratisch zu regeln. Der Unterschied zwischen Rumänien und dem, was im Westen geschehen ist, besteht darin, dass in Rumänien im Großen und Ganzen keine der für solche Situationen geltenden Normen eingehalten wurden. Die Kommunikation war abrupt, und es wurden Zwänge und Einschränkungen ausgesprochen, ohne eine Offenheit an den Tag zu legen z.B. für Partnerschaften mit religiösen Organisationen, die in Krisensituationen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen. Darüber hinaus wurde eine unangemessene Sprache verwendet, die vor allem auf lange Sicht negative Folgen haben wird. Es wurde auf liturgische Zeremonien hingewiesen, die es seit Jahrhunderten gibt. Nach Ansicht der Behörden hätten sie während der Pandemie fast vollständig verboten werden müssen. Dies ist jedoch nach internationalen Standards der Religionsfreiheit streng verboten, weil es Spannungen innerhalb der Gesellschaft erzeugt, Gläubige gegen Nicht-Gläubige ausspielt und soziale Blasen entstehen lässt“, sagt Raiu.
Laut einem OSZE-Bericht über die Einschränkung der Menschenrechte in Notsituationen in den 57 Mitgliedsstaaten gehört Rumänien zu den Ländern, die die Religionsfreiheit stark eingeschränkt haben. Eine Zeit lang wurden die Gottesdienste in den rumänischen Kirchen hinter verschlossenen Türen abgehalten, da die Gläubigen auch zu Ostern nicht am religiösen Leben der Gemeinde teilnehmen konnten. Dann wurde beschlossen, dass der Zugang zu Wallfahrten nur Personen gestattet werden sollte, die in der jeweiligen Ortschaft wohnen. Auch religiöse Prozessionen waren verboten. Die Polizei betrat die Kirchen und verteilte Geldstrafen während der Gottesdienste. Inzwischen ist die orthodoxe Kirche ein Partner des Staates, sowohl bei der Beratung der Gläubigen, den Anweisungen der Behörden zu folgen, als auch bei karitativen Aktionen zugunsten von Krankenhäusern, Kindern, älteren Menschen und Unterprivilegierten. Während des Ausnahmezustands spendete die Rumänisch-Orthodoxe Kirche mehr als 4 Millionen Euro.
Doch was hätte die Regierung in Bukarest tun sollen, um sicherzustellen, dass der Kampf gegen die Pandemie die Religionsfreiheit nicht beeinträchtigt? Der erste Schritt ist das, was die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich traditionell tun, nämlich eine Plattform für den Dialog zwischen Staat und Religionen einzurichten. Eine unpolitische Plattform, d.h. zusammengesetzt aus Mitgliedern der Regierung, aber auch aus Vertretern der Opposition, aller religiösen Organisationen, Akademikern, NGOs, Menschenrechtsaktivisten, unabhängigen Experten, Medien. Letztere sind sehr wichtig, weil sie die Botschaften an die Menschen vermitteln. Sobald diese Plattform geschaffen ist, kann nach dem Vorbild Großbritanniens ein Konsens-Leitfaden für Einschränkungen des religiösen Lebens während der Pandemie entwickelt werden. Bevor dieser Leitfaden umgesetzt wird, müssen alle Beteiligten einen Konsens erzielen oder zumindest den Kompromiss verstehen, den sie angesichts der Einschränkungen eingehen müssen. Ohne diese beiden Schritte gibt es nur Lärm in den Medien, und die Frustration in der Gemeinschaft wird noch lange anhalten“, sagte OSZE-Experte Cătălin Raiu.
In einem kürzlich erschienenen Artikel schrieb er, dass die Beziehung zwischen Staat und Kult absichtlich angespannt behalten zu sein scheint, da sie auf Überwachung und Kontrolle sowie auf verbaler Gewalt durch die Behörden oder bestimmte Meinungsmittlern beruht. Eine Haltung, die zeigt, dass die internationalen Verpflichtungen Rumäniens zur Religionsfreiheit nur metaphorischen Wert haben“.
Das habe gute Gründe, glaubt er: Nach der Wende, als wir zur Demokratie zurückkehrten, haben wir zwar die Glaubensfreiheit als verfassungsmäßiges Leitprinzip beibehalten, aber ohne eine Politik, die ihren Status als Grundrecht realisiert, wie es im Westen der Fall ist. Spannungen sind gerade wegen der Verwirrung über die Entscheidungskompetenz in Sachen Religionsfreiheit entstanden. In Rumänien wird diese Verantwortung der Kirche zugeschrieben, während sie gleichzeitig eine Angelegenheit des Staates ist, da sie in der Verfassung, in Gesetzen oder internationalen Verträgen verankert ist. Der Staat denkt nicht über die Religionsfreiheit nach, nimmt keine ordnungspolitische Stellung ein, greift nicht einmal in die öffentliche Debatte ein, kurzum, er überlässt alles der Kirche. Daher die Positionen, die die Kirche in der Öffentlichkeit einnimmt, wie wir in diesem Jahr oft gesehen haben! Auf der anderen Seite haben einige Politiker Bemerkungen gemacht, die als unangebracht angesehen werden. Im Bereich der Menschenrechte kommt es vor, dass eine einfache Erklärung alles zerstören kann, was über die Jahre gut aufgebaut worden ist“, meint der Experte.