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Religion prägt Weltanschauung

Viele Menschen in Rumänien sehen sich als religiös an - die Praxis sieht dann aber anders aus.

Religion prägt Weltanschauung
Religion prägt Weltanschauung

, 10.05.2018, 12:13

95% der Rumänen glauben an Gott, aber nur 21% geben an, dass sie jede Woche in die Kirche gehen. Obwohl 67% glauben, dass „Homosexualität entmutigt werden sollte“, finden nur 27% der Rumänen, dass das Referendum zur Definierung der Ehe ausschlie‎ßlich als Vereinigung zwischen Mann und Frau notwendig ist. Diese Daten sind neulich von der Friedrich Ebert Stiftung in Rumänien veröffentlicht worden.



Die Stiftung präsentierte die Daten vor einem besonderen Hintergrund: die Regierungskoalition verkündete die Absicht, ein Referendum abzuhalten, um einer Bürgerpetition mit 3 Millionen Unterschriften zur Änderung der rumänischen Verfassung Folge zu leisten. Die Menschen wollen, dass in der Verfassung die freie Eheschlie‎ßung zwischen Mann und Frau als Grundlage der Familie definiert wird – und nicht, wie jetzt, nur der Zusammenschluss von Ehegatten. Den Antrag initiierte eine Koalition von mehreren Vereinen, die sich für die traditionelle heterosexuelle Familie unter anderem auf der Grundlage christlicher Prinzipien einsetzt. Obwohl die meisten Rumänen sich für religiös halten – wie es viele soziologische Studien zeigen – deckt die Statistik auch einige Diskrepanzen oder Lücken in dieser Logik auf, sagt Victoria Stoiciu, Repräsentantin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Rumänien. „Wir haben 99,6% der Rumänen, die – nach der Volkszählung – erklären, einer Religion anzugehören. Wenn wir auf der anderen Seite genauer hinschauen, wie die Menschen in ihrem Alltag diese religiösen Überzeugungen ausleben, sehen wir, dass nur 44% der Rumänen täglich beten. Und nur 21% der Befragten sagen, sie gingen wöchentlich in die Kirche. Eine Diskrepanz fällt sofort auf. Fast 100% der Rumänen halten sich für religiös, aber anscheinend praktizieren viel weniger Menschen ihre Religion“, sagt Stoiciu.



Der Anthropologe Vintilă Mihăilescu stimmt den Daten zu, die die Stiftung aus mehreren Quellen zentralisiert veröffentlichte. Er glaubt allerdings, dass man die Kluft zwischen vorgegebener Religiosität und tatsächlicher Praxis differenzierter betrachten muss: „Diesen Unterschied muss man nicht so deuten, dass Taten nicht den Worten folgen. Wir müssen nur verstehen, dass orthodoxe Praktiken möglicherweise weniger institutionalisiert sind als andere. Die direkte Beziehung zu Gott durch das Gebet zuhause ist auch eine Form der praktizierten Religion. Diese Kluft, die in der Statistik erscheint, deutet nicht unbedingt auf Heuchelei hin, wie sie sich oft ansieht. Es bedeutet nicht etwa: „Ich bin zwar fromm, aber ich habe keine Zeit für diesen Mist.“ Häufig haben sehr fromme Gemeinschaften ihre eigenen Gewohnheiten, die oft vorchristlich, sogar magisch sind. Diese nicht kanonischen Praktiken werden dennoch von einigen Priestern akzeptiert, weil sie ihre Hirtenmission ermöglichen“, sagt der Anthropologe.



Darüber hinaus bestätige die vom Social Monitor der FES veröffentlichte Infografik, dass die religiösen Gewohnheiten eher ein Bindemittel der Gemeinde als unbedingt Ausdruck des Glaubens ihrer Mitglieder sind. „Es scheint auch paradoxal, dass 99,6% der Befragten angeben, sie gehörten einer Religion an, aber nur 95% sagen, sie glauben an Gott. Es ist zwar kein riesiger Unterschied, von nur 5%, aber er kann nicht vernachlässigt werden. Er erklärt sich durch die Mitgliedschaft in einer Tradition und einer kulturellen Gemeinschaft. Zum Beispiel wird jemand in einer Familie von orthodoxen Christen geboren, dann getauft, und heiratet dann in der Kirche. Alles sind Merkmale der Mitgliedschaft in einer Religion, aber es bedeutet nicht, dass die Person tatsächlich auch an Gott glaubt. Die eher kulturelle Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft bedeutet nicht, dass eine Person sich gezwungen fühlt, die täglichen religiösen Praktiken einzuhalten, also Kirche, Gebet usw. Die gro‎ßen Übergangsrituale — Taufe, Hochzeit, Begräbnis — werden dennoch respektiert“, meint Victoria Stoiciu von der FES.



Im gleichen Register der Kluft zwischen Grundsatz und Praxis müssten auch die Daten ausgelegt werden, die eine geringe Unterstützung für das Familienreferendum zeigen – nur 27% sind für das Referendum, obwohl 67% denken, dass Homosexualität entmutigt werden muss. Diese Daten zeugen auch von Toleranz, findet der Anthropologe Vintilă Mihăilescu. „Die Tatsache, dass Homosexualität entmutigt werden muss, ist aus der Perspektive eines frommen Christen oder eines Geistlichen völlig natürlich. Kein Thema, ob das richtig ist oder falsch ist: ich sage nur, dass die Aussage kohärent ist mit dem christlichen Gemeinverständnis. Die Überraschung liegt woanders. Zwei Drittel der Rumänen scheinen zu sagen: dieses Phänomen sollte nicht gefördert werden, aber das hei‎ßt nicht, dass wir die Verfassung oder die Gesetze ändern müssen. Homosexualität sollte also nicht ermutigt, aber auch nicht bestraft werden. Und das impliziert eine höhere Dosis von Weisheit, als ich erwartet hatte“, wundert sich der Anthropologe.



Relevanter für den Gemütszustand in der Gesellschaft ist aber eine andere Zahl: 79% der Rumänen verknüpfen den Glauben mit der Moral und glauben, dass es notwendig ist, an Gott zu glauben, um moralisch zu sein und die richtigen Wertvorstellungen zu haben, so Vintilă Mihailescu. Ihm zufolge deutet das darauf hin, dass die Menschen die Welt als unmoralisch empfinden und die Kirche als einzige Orientierungshilfe.

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(foto: Anqa / pixabay.com)
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