Leben und arbeiten in einem Großunternehmen
In den letzten 20 Jahtren haben 42 Großunternehmen der Welt Filialen in Rumänien eröffnet; die meisten von ihnen sind Importfirmen, Kaufhäuser, Versandhäuser oder Dienstleistungsunternehmen.
România Internațional, 07.08.2013, 13:37
In den letzten 20 Jahtren haben 42 Großunternehmen der Welt Filialen in Rumänien eröffnet; die meisten von ihnen sind Importfirmen, Kaufhäuser, Versandhäuser oder Dienstleistungsunternehmen. Die Filialenleiter kommen normalerweise aus den Herkunftsländern der Aktionäre dieser Großunternehmen. Für die meisten jungen Rumänen, die eine Hochschule abgeschlossen haben (das sind in etwa 100.000 im Jahr), ist ein Arbeitsplatz in einer rumänischen Filiale eines Großunternehmens die beste Alternative zu Emigration.
Die Gehälter in einem multinationalen Großunternehmen sind höher als in einem kleineren Unternehmen oder beim Staat, und es gibt auch weitere Vorteile wie zum Beispiel einen Dienstwagen, den Zugang zur Weiterbildung, private Krankenversicherung sowie gute Gehaltszulagen für Überstunden oder bessere Arbeitsleistungen. Eine Statistik von CNIPMMR, einer Organisation, welche die Interessen der kleinen und mittleren Unternehmen vertritt, hat erwiesen, daß 14% der rumänischen Bevölkerung bei Privatfirmen arbeiten.
Was die jungen Leute aber nicht wissen, wenn sie davon träumen, bei einem großen Konzern zu arbeiten, ist, daß die Vorteile nur theoretisch der Anstrengung am Arbeitsplatz entsprechen. Die Wirklichkeit sei viel härter, sagte uns Ioana Popescu, eine 38jährige, die bei einer Bank arbeitet:
Als wir die Hochschule abschlossen, dachten wir, daß ein Arbeitsplatz in einem multinationalen Unternehmen uns unbegrenzte Möglichkeiten bieten würde. Ich wünschte mir sehr, in einem solchen multinationalen Unternehmen zu arbeiten. Ich wußte nicht, was das bedeuten würde, es gab auch ein paar gescheiterte Versuche, bis ich endlich einen Arbeitsplatz in einer Großfirma bekam. Das professionnelle Niveau ist sehr hoch. Am Anfang hatten wir alle davon geträumt, hierarchisch so hoch wie möglich zu kommen, so viel wie möglich zu lernen. Die Corporation“ war so etwas wie der Heilige Graal — nun, die Wirklichkeit ist doch ein bißchen anders. Man hat schon Zugriff auf ultramoderne Software, man kann in der Tat viel lernen, es gibt auch Weiterbildungskurse. Aber man hat keine Freizeit mehr. Man muß auf seine Hobbys verzichten, auf das Vergnügen, ins Theater oder ins Konzert zu gehen, man muß sogar auf das Familienleben verzichten. Am Anfang wußte ich das alles nicht, aber ich habe es nach und nach gelernt — so ist das Leben in der Firma.“
Wenn man mit der Arbeit bei einem Großunternehmen anfängt, wird einem gesagt, die Firma sei wie eine Großfamilie, wo jedes Mitglied seine eigenen Zuständigkeiten habe, aber auch verpflichtet sei, den anderen Familienmitgliedern“ zu helfen, ihre Arbeit rechtzeitig zu erledigen. Die Arbeit ist aber praktisch nie zu Ende. Die Menschen werden zu Bienen, die zum Gedeihen des Bienenstocks arbeiten müssen. Am Anfang sagt einem keiner, wieviele Überstunden man in Kauf nehmen muß. Ioana Popescu erzählt:
Mit der Zeit haben ich erfahren, dass so etwas wie ein 8-Stunden-Arbeitstag nicht existiert — es wird gearbeitet, bis der Auftrag erledigt wird. Und der Auftrag wird sehr oft erst viele Stunden nach Feierabend erledigt. Es besteht kein äußerlicher Zwang, man muß sich frei dafür entscheiden. Es kommt darauf an, was man sich wünscht. Wenn man Karriere machen und hierarchisch so hoch wie möglich kommen will, muß man viele Überstunden in Kauf nehmen. Wenn man als Vater oder Mutter alles opfern möchte, um dem Kind alles zu sichern, dann kann man sagen »Ja, ich tue es meinem Kind zuliebe«. Man muß dafür aber einen hohen Preis bezahlen, im besten Fall kann man noch das Wochenende mit der Familie verbringen. Es ist sehr schwer, weniger zu arbeiten und sich für mehr Freizeit zu entscheiden, weil (wir wollen ja keine Heuchler sein), wenn man sich gut verkaufen kann, wenn man viel arbeitet, wenn man ein hohes professionnelles Niveau erreicht, dann kann man in einem multinationalem Großunternehmen sehr gut verdienen. Mit den erworbenen Fachkentnissen ist man stets auf dem Markt — daher ist es auch schwer, harte Entscheidungen zu treffen.“
Nach einigen Jahren harter Arbeit in einem immer höheren Rhythmus und ohne Zeitlimit leiden die Angestellten unter chronischer Müdigkeit oder sogar unter Depressionen:
Man ändert sich, wird zum anderen Menschen — erst wenn man einen dreiwöchigen Urlaub macht und dann in die Firma zurückkehrt, wird einem klar, daß es nicht in Ordnung ist. Man sieht andere Leute, die um 4 oder 5 Uhr nachmittags Feierabend machen und nach Hause gehen, und man denkt nicht daran, daß es nicht ok sei, wenn man bis spät abends in der Firma bleibt. Die anderen scheinen etwas falsch zu machen, sie hätten keinen Ehrgeiz, sie wüßten nicht, was sie im Leben erreichen wollen. Man braucht einen besonderen Moment, ein Aha-Erlebnis, um zu verstehen, daß der Weg, den man eingeschlagen hat, nicht der richtige ist. In meinem Fall gab es Familienprobleme, die mir die Augen geöffnet und klar gemacht haben, daß ich etwas ändern sollte.“
Die Großunternehmen betonen ständig die Karrieremöglichkeiten und bieten Workshops zur persönlichen Entwicklung, sehr teuere Fort- und Weiterbildungskurse, und sehr gute Krankenversicherungen, mit medizinischen Leistungen von höchster Qualität. Trotzdem landen sehr viele Großunternehmen-Mitarbeiter auf der Couch des Psychotherapeuten, sagte uns der Facharzt Gabriel Diaconu:
Die Patienten, die zu mir kommen, sind sehr traurig, wenn wir zusammensitzen und diskutieren. Wenn sie die Augen aufmachen fragen sie sich »Wie bin ich bloß hier gelandet?«, »Wie konnte ich es zulassen, daß so etwas passiert?«. Das ist eine böse Wirklichkeit. Im Vergleich zu der allgemeinen Bevölkerung haben diese Leute ein drei- bis viermal höheres Risiko, an chronischer Schlaflosigkeit oder unter Angststörungen zu leiden. Auch das Risiko eines Aufputschmittelmißbrauchs ist sechs- bis siebenmal hoher als beim Rest der Bevölkerung. Es geht dabei um eine Müdigkeitsfabrik, die aufgeputscht werden muß, ich rede dabei nicht von Kaffee oder Zigaretten, sondern über richtige Aufputschmittel, Energy-Drinks, gefährliche Cocktails, die am Morgen einen Taurin-Drink und am Abend dazu noch Alkohol enthalten. Mit solchen gefährlichen Mischungen sollte der Gehirn ununterbrochen auf Hochtouren funktionieren, und das kann kein gutes Ende haben.“
Was motiviert aber so viele Leute, einen solchen Arbeitsrhythmus zu akzeptieren, der, auch wenn die Arbeit gut bezahlt wird, unvermeidlich zu Erschöpfung führt? Die Antwort hat der Facharzt für Psychiatrie Gabriel Diaconu:
Diese Menschen erwerben einen gewissen Lebensstandard, wenn sie dann zwei bis drei Wochen im Jahr einen schönen Urlaub in Thailand machen, leben sie besser als der Durchschnittsbürger. Oder sie fahren ein dickes Auto, oder aber wohnen sie in einem nobleren Bezirk, in einem Haus, oder einem Appartment, das um 30 Quadratmeter größer ist. Abends wenn sie nach Hause kommen, legen sie sich schlafen in Bettlaken, die das Doppelte gekostet haben, als sie wert sind. All diese Details geben aber diesen Leuten das Gefühl, das sie ein legitimes, geregeltes Leben führen.“
Paradoxerweise träumen viele der Großunternehmen-Mitarbeiter, die in die Praxis des Psychotherapeuten Diaconu kommen, davon, einige hunderttausend Euro zu sparen und ein kleines Unternehmen zu gründen. Sie wollen aus dem System heraus, bevor es zu spät wird. Und das ist kein typisch rumänisches Problem, sagte uns Dr. Gabriel Diaconu:
Rumänien hat gerade die Augen aufgemacht, da wir nur seit etwa 20 Jahren mit den Großunternehmen, den sog. »Corporations« leben müssen. Wenn man die Pathologie des Corporation-Mitarbeiters in den USA betrachtet, stellt man fest, daß dort diese Welt viel zynischer ist.“
Ioana Popescu hat vor 45 Tagen ihren Rücktritt eingereicht. Wenn die im Arbeitsvertrag vorgesehene Kündigungsfrist abgelaufen ist, hat sie vor, eine Zeit lang schlicht und einfach zu leben. Ioana ist 38 Jahre alt, ist ledig und hat keine Kinder.
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