Hörbehinderte in Rumänien: Gebärdensprache kaum gefördert, Integration schwierig
In Rumänien leben rund 30.000 Hörbehinderte, denen laut Gesetz eine würdevolle Integration ins schulische, berufliche und soziale Umfeld zusteht.
Roxana Vasile, 18.05.2022, 20:00
Hörbehinderte und Hörgeschädigte sind jedoch oft unsichtbar, weil sie ihre Wünsche, Anliegen oder Unzufriedenheit nicht in konventioneller Art ausdrücken können. Für die Rechte der Hörbehinderten setzen sich Menschen wie Florica Iuhas ein. Sie ist Dozentin an der Fakultät für Journalismus und Kommunikationswissenschaften der Uni Bukarest. Sie erläutert, warum zum Beispiel nur 1 % der Hörbehinderten das Abi im Fach Rumänische Sprache und Literatur bestehen:
Eines der größten Probleme ist die Tatsache, dass das rumänische Schulwesen den Bedürfnissen dieser Menschen nicht entgegenkommt — sie denken und träumen in Gebärdensprache, müssen aber beim Abi die Prüfung in herkömmlicher Sprache ablegen. Ein hörbehinderter Mensch hat beispielsweise keine Präpositionen und Konjunktionen im Wortschatz, versteht den Unterschied zwischen Präsens und Plusquamperfekt nicht, denn Hörbehinderte haben einen visuellen Ansatz im Umgang mit Sprache. Das ist in unserem Bildungsministerium offenbar noch nicht angekommen. Hörbehinderte Menschen werden die grammatikalischen Regeln der herkömmlichen Sprache nie meistern können, denn für sie gelten andere Regeln in der Syntax und der Satzgliedstellung. Sie sagen zum Beispiel ‚Ich gesehen schönes Mädchen‘ oder ‚Ich gehen Markt kaufen Petersilie‘ — eventuell wird dem noch eine Zeitbestimmung wie ‚heute‘, ‚gestern‘ oder ‚morgen‘ hinzugefügt. Daher müsste die Gebärdensprache auch bei den Abi-Prüfungen herangezogen werden. In Fächern wie Geographie und Geschichte lernen sie zwar Texte auswendig und auch in theoretischen Fächern wie Mathe kommen sie gut zurecht — einige werden sogar erfolgreiche Informatiker –, doch im Fach Sprache und Literatur haben Hörbehinderte große Schwierigkeiten, denn mental ist ihre sprachliche Auffassungsgabe anders strukturiert als bei hörenden Menschen.“
Anders gesagt macht das derzeitige Bildungsgesetz keinen Unterschied zwischen hörenden und hörbehinderten Menschen, bei Prüfungen werden alle über denselben Kamm geschoren. In Sprache und Literatur müssten Hörbehinderte erstens die Prüfung in Gebärdensprache ablegen dürfen und zweitens leichtere Aufgaben bekommen, ist der Meinung Florica Iuhas. Zudem brauche es auch Lehrer, die die Gebärdensprache beherrschen und auch anderen beibringen können, ähnlich wie es beim Fremdsprachenlernen ist. Auch im Umgang mit Behörden und Institutionen haben es Hörbehinderte schwer — am Schalter, im Krankenhaus oder vor Gericht können sie ihre Anliegen oder Beschwerden nur mühsam vortragen.
Im Frühjahr 2020 wurde ein Gesetz verabschiedet, das nach seiner Urheberin, der rumänischen Parlamentsabgeordneten Adriana Săftoiu, benannt wurde und darauf abzielt, das Leben der hörbehinderten Menschen zu erleichtern. Die Dozentin Florica Iuhas fasst zusammen, was das Gesetz vorsieht:
Laut dem Gesetz sind alle Institutionen des rumänischen Staates verpflichtet, hörbehinderten Personen im Umgang mit staatlichen Behörden Dolmetscher für Gebärdensprache zur Verfügung zu stellen — wohlgemerkt für die rumänische Gebärdensprache, denn mit dem Gesetz wird diese als Muttersprache der hörbehinderten Personen anerkannt. Das hat eine gewisse Ähnlichkeit zur Anerkennung von Minderheitensprachen. Ein Mensch, dessen Muttersprache beispielsweise Ungarisch ist, ist berechtigt, bei Behördengängen auf kommunaler Ebene — etwa in den Landkreisen Covasna und Harghita — diese Sprache zu verwenden. Ein Hörbehinderter kann das bis heute nicht, weil es in staatlichen Institutionen gänzlich an Dolmetschern für Gebärdensprache fehlt.“
Das Gesetz ist nun seit zwei Jahren in Kraft, und die staatlichen Institutionen hatten laut Vorschriften die Pflicht, die vorgesehenen Maßnahmen in dieser Zeit auch umzusetzen. Seit April 2022 müsste also an jeder staatlichen Stelle ein Dolmetscher für Behördensprache verfügbar sein. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus — es gibt immer noch nur ganz wenige Dolmetscher, die der Gebärdensprache mächtig oder zumindest kundig sind. Florica Iuhas weiß, warum das so ist:
Die meisten Dolmetscher für Gebärdensprache schrecken von der Unfähigkeit der staatlichen Institutionen zurück, sie angemessen zu bezahlen oder zumindest geregelte Arbeitsverhältnisse zu bieten. Praktisch sind wir keinen Zentimeter weiter, und das sieht man schon, wenn man den Fernseher einschaltet. Dem Staatspräsidenten, der das Gesetz übrigens unterzeichnet hat, steht kein Gebärdensprache-Dolmetscher zur Seite, wenn er sich an die Öffentlichkeit wendet. Das ist nicht normal. In jedem zivilisierten Land wird ein Staatspräsident, der eine Ansprache an die Nation richtet, in Gebärdensprache gedolmetscht, denn als Staatschef ist er der Präsident aller Bürger des Landes. Was kann ein hörbehinderter Mensch in dieser Situation tun? Er muss sich damit begnügen, von den Lippen abzulesen, was der Präsident sagt. Zwar setzen einige TV-Sender ihre eigenen Dolmetscher für Gebärdensprache ein, doch das Gesetz schreibt vor, dass auch staatliche Institutionen — in dem Fall das Präsidialamt — eigene Dolmetscher haben müssen.“
Doch auch Fernsehsender beklagen sich über die geringe Anzahl an Dolmetschern für Gebärdensprache. Die Dozentin Florica Iuhas ist selbst Dolmetscherin mit dieser Spezialisierung und gibt ihr Fachwissen im Rahmen einer Vorlesung bei der Fakultät für Journalismus in Bukarest weiter. Doch vorerst ist es landesweit die einzige Lehrveranstaltung dieser Art.
Ich bin mehrmals von Mitarbeitern des Rettungsdienstes SMURD darauf angegangen worden. Sie sagten: ‚Bringen Sie uns bitte diese Sprache bei, denn wir haben manchmal Einsätze bei Familien mit Hörbehinderungen und wir können uns kaum mit ihnen verständigen.‘. So kam ich auf die Idee, diesen Kurs anzubieten, und er richtet sich nicht nur an Studenten unserer Hochschule, sondern an alle Interessenten auch von außerhalb. Im beruflichen Leben weiß man nie, ob man irgendwann mit hörbehinderten Menschen zu tun hat. Und das ist auch mein Anliegen — hörenden Menschen beizubringen, wie man sich mit Hörbehinderten verständigt.“
In Rumänien gibt es viel Nachholbedarf. In 48 Ländern weltweit ist die Gebärdensprache seit Jahrzehnten als Muttersprache der hörbehinderten Menschen anerkannt. Und mehr als Anerkennung braucht diese spezielle Sprache auch Förderung und Weiterentwicklung. Beispielsweise hat die rumänische Gebärdensprache etwa 8.000 Zeichen, während die französische Gebärdensprache über 38.000 Zeichen hat und ihr deutsches Pendant über 50.000 Zeichen verfügt. In Rumänien gibt es nicht einmal ein Institut oder eine wissenschaftliche Stelle, die sich mit Gebärdensprache und ihrer Pflege auseinandersetzt, weiß die Dozentin Florica Iuhas:
Hörbehinderte Menschen leben unter uns und sie haben dasselbe Bedürfnis wie Hörende, sich mitzuteilen und ihr Kommunikationsinstrument weiterzuentwickeln. Ich hoffe, dass man auch in Rumänien die Notwendigkeit erkennt, die Gebärdensprache zu entwickeln, um diesen Menschen zu einer besseren Integration zu verhelfen.“