Gewalt gegen Frauen: Barometer für 2022 zeigt differenziertes Bild
Eine unlängst erschienene Studie untersucht, wie sich die Wahrnehmung der geschlechtsspezifischen Gewalt und insbesondere die Einstellung gegenüber Übergriffen geändert haben.
Christine Leșcu, 25.01.2023, 14:05
Geschlechtsspezifische Gewalt ist eine dramatische Realität in allen europäischen Ländern, und sie macht auch vor Rumänien nicht halt. In den letzten Jahren wurde eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Täter zu bestrafen und Frauen vor Übergriffen zu schützen, die sich hauptsächlich gegen sie richten. Dazu gehören z.B. einstweilige Verfügungen und Tätern das Tragen von elektronischen Armbändern aufzuerlegen.
Die von der rumänischen Polizei erfassten Daten über häusliche Gewalt zeigen, dass in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 18 507 Frauen Opfer von Gewalt wurden, darunter 18 Fälle von Mord, 13 Mordversuche und 12 801 Körperverletzungen. Experten sind jedoch der Ansicht, dass die vorhandenen Daten nach wie vor nicht aussagekräftig sind, da sich die Statistiken nur auf körperliche Gewalt beziehen, ohne die anderen Arten von Gewalt gegen Frauen zu berücksichtigen, die im rumänischen Gesetz beschrieben sind. Ionela Băluță, Professorin an der Fakultät für Politikwissenschaft der Universität Bukarest und Mitverfasserin des Barometers für geschlechtsspezifische Gewalt im Jahr 2022, erklärt, warum umfassende Informationen notwendig sind:
Im Mittelpunkt dieses Barometers steht die Gewalt gegen Frauen. Wie wir in der einleitenden Studie dargelegt haben, war unser Anliegen, auf die Art und Weise einzugehen, wie das Phänomen sowohl im akademischen Bereich als auch im politischen Diskurs betrachtet und erklärt wird. Übrigens hat Rumänien ja auch die Istanbul-Konvention ratifiziert und im vergangenen Jahr eine erste Bewertung vorgenommen. Dieses Übereinkommen verfügt über einen internationalen Überwachungs- und Bewertungsausschuss namens GREVIO, der Länderberichte erstellt. Und im Länderbericht über Rumänien ist einer der Punkte, der von den GREVIO-Experten nachdrücklich als negativ hervorgehoben wird, die Erhebung von Daten. Wenn wir den online verfügbaren und in einschlägigen Kreisen bekannten GREVIO-Bericht lesen, dann stellen wir fest, dass wir keine handfesten Daten über Gewalt gegen Frauen haben. Dies ist eines der größten Probleme, denn wir können keine angemessenen politischen Maßnahmen fordern, wenn wir nicht genau wissen, wie das Phänomen Gewalt gegen Frauen tatsächlich gewichtet ist. Zweitens wird dadurch auch deutlich, dass die Geschlechterperspektive in der Art und Weise, wie die rumänischen Behörden die Gesetzgebung geändert und die öffentliche Politik gestaltet haben, nicht oder nur unzureichend berücksichtigt wird.“
Das vom FILIA-Zentrum (einer feministischen NGO) koordinierte und durch einen Zuschuss der deutschen Botschaft in Bukarest finanzierte Gender Violence Barometer 2022 ist erst die zweite Studie zu diesem Thema seit 2003. Damals hieß die Untersuchung Barometer für häusliche Gewalt“ und hatte somit einen engeren Begriff im Mittelpunkt. Dennoch sei es möglich, die 20 Jahre auseinanderliegenden Daten zu vergleichen, sagt die Politikwissenschaftlerin Ionela Băluță:
Ich glaube nicht, dass wir nach diesem Vergleich sagen können, dass wir einen spektakulären Fortschritt in Bezug auf das Bewusstsein, die Sensibilisierung und die Ablehnung von Gewalt gegen Frauen erzielt haben. Die Toleranz gegenüber körperlichen Übergriffen hat sich in der Tat deutlich verschoben. Es wäre ziemlich bösartig, Schläge, Ohrfeigen und sogar Beleidigungen nicht als körperliche Übergriffe zu bezeichnen. Selbst aus unserem Barometer geht hervor, dass diese Erscheinungsformen als Formen der Gewalt anerkannt werden. Im Vergleich zu 2003 hat der Grad der Ablehnung stark zugenommen. Im Allgemeinen werden diese Formen der Gewalt von mehr als 80 % der Bevölkerung abgelehnt, was 2003 noch nicht der Fall war. Bei den weniger bekannten Formen der Gewalt, die jedoch im Gesetz verankert sind, d.h. soziale Gewalt, wirtschaftliche Gewalt und psychologische Gewalt, ist hingegen nur eine leichte Zunahme der Ablehnung zu verzeichnen. Es ist nicht viel, aber es sind immerhin sieben Prozent. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Gegenwärtig halten etwa 25 % der Befragten es für kaum oder gar nicht schlimm, wenn eine Frau ihr Geld nicht nach Belieben ausgeben darf, wenn eine Frau nicht ohne Begleitung ihres Partners aus dem Haus gehen darf oder wenn eine Frau keinen Freundeskreis haben darf.“
Weitere Daten des Barometers zur Gewalt gegen Frauen zeigen ein in Teilen der Bevölkerung ebenfalls rückständiges Bild: 19 % der Befragten halten es für kaum oder überhaupt nicht verwerflich, wenn eine Frau vergewaltigt wird, nachdem sie zugestimmt hat, in das Haus eines Mannes mitzugehen, und 12 % finden es nicht verabscheuenswert, wenn eine aufreizend gekleidete Frau vergewaltigt wird. Ionela Băluță kommentiert:
Wenn wir uns die Einstellung zu Vergewaltigungen ansehen, werden die in der Bevölkerung weit verbreiteten Stereotype sehr deutlich. Und je niedriger das Bildungsniveau oder je patriarchalischer die Werte sind, desto besorgniserregender sind die Prozentzahlen. Selbst wenn die Befragten beispielsweise eine Vergewaltigung für inakzeptabel halten und diese von der Mehrheit als sehr schwerwiegende Straftat angesehen wird, wollten wir herausfinden, was die Menschen denken, die eine andere Einstellung dazu haben. Denn auf die Frage, was sie davon halten, wenn eine Frau vergewaltigt wird, nachdem sie zugestimmt hat, mit einem Mann zu ihm nach Hause zu gehen, kommt die Antwort, dass es in so einem Fall nicht mehr so schlimm sei. Als ob, wenn Frauen in ihrem sozialen Leben sich mit Männern verabreden, um bestimmte Orte aufzusuchen, oder zu sich oder zu ihm zu gehen, um sich zu unterhalten, die Vergewaltigung automatisch dazugehören würde. Das hört sich an, wie wenn man sagen würde: »Passt ja auf, ihr Frauen, wenn ihr dem einem oder dem anderen Vorschlag eines Mannes zustimmt!« Leider glaubt ein großer Teil der Menschen in Rumänien, die so denken, dass Frauen in solchen Fällen eine Vergewaltigung stillschweigend hinnehmen müssten. Und es gibt noch etwas, das besorgniserregend ist. Wir haben insbesondere gefragt: »Wie schlimm ist es Ihrer Meinung nach, wenn ein minderjähriges Mädchen Sex mit einem erwachsenen Mann hat?« In Wirklichkeit gibt es diese Situation gar nicht. Eine Minderjährige kann von einem Mann nur vergewaltigt werden. Zumindest nach dem Gesetzestext, wenn wir uns nicht mit anderen Fragen der Ethik, Moral usw. befassen, denn die juristische Definition besagt, dass man in dem Moment, in dem man einer Handlung nicht ausdrücklich zustimmt, man genötigt wird, etwas zu tun. Aber unsere Befragten erachteten es als weniger schlimm, wenn eine Minderjährige Sex mit einem erwachsenen Mann hat, als wenn eine Frau von einem Fremden vergewaltigt wird.“
Mit dem Barometer für Gewalt gegen Frauen 2022 wollten die Autorinnen dem Mangel an offiziellen Daten über die Verbreitung geschlechtsspezifischer Gewalt in all ihren Formen entgegenwirken. Es soll ferner auch den Behörden als Arbeitsinstrument dienen, um geeignete Maßnahmen von der Politik zu fordern.