Funktionale Analphabeten: Ist rumänische Schule unfähig, praktische Kompetenzen zu vermitteln?
Wie kommt es dazu, dass man einen durchschnittlichen literarischen oder wissenschaftlichen Text nicht verstehen kann, obwohl des Lesens, Schreibens und Rechnens kundig ist? Bildungsexperten nennen solche Menschen funktionale Analphabeten.
Christine Leșcu, 14.12.2016, 19:39
In den letzten Jahren lag der durchschnittliche Stand des funktionalen Analphabetismus in den EU-Staaten bei 20%. In Rumänien überschreitet dieser den europäischen Durchschnitt stark und erreicht sogar 42% im Falle der 15-jährigen Schüler, heißt es von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Zu diesem Ergebnis ist man 2015 nach minutiösen Berechnungen gekommen, die die Ergebnisse der rumänischen Schüler bei verschiedenen Tests berücksichtigten: PISA, TIMSS, PIRLS etc. Ausschließlich anhand der PISA-Prüfungen (wodurch sowohl sprachliche als auch wissenschaftliche Kenntnisse bewertet werden), die letztes Jahr stattgefunden haben, liege der Stand des funktionalen Analphabetismus der rumänischen Schüler bei 38%. Wie wertet man diese Zahlen jedoch aus? Wodurch kennzeichnen sich die Schüler, die als funktionale Analphabeten eingestuft werden? Das erklärt uns Cristian Hatu, Gründungsmitglied des Zentrums für Bildungsevaluierung und –analysen.
Sie sind nicht fähig, einigermaßen strukturiert zu denken, eine recht elementare Analyse durchzuführen. In Mathematik z.B. können sie addieren, multiplizieren, aber wenn sie mit einer konkreten Situation konfrontiert werden, wissen sie nicht wirklich, welche elementaren Operationen sie anwenden müssen. Wenn sie Teppichboden für einen bestimmten Raum kaufen müssten, wüssten sie nicht, wie sie die Fläche berechnen sollen, und sie können keine einfache Grafik interpretieren.“
Die Schüler erkennen ihrerseits, wenn auch nur empirisch, diese Situation und finden Erklärungen dafür. Vlad Ştefan ist der Vorsitzende des Nationalen Schülerrates und Schüler des Nationalen Gymnasiums Andrei Şaguna“ in Kronstadt.
Leider ist das rumänische Bildungswesen in der Vergangenheit verankert geblieben. Man hat es nicht geschafft, das rumänische Schulwesen wie andere europäische Bildungssysteme, die auf Analyse-, Studien- und Beobachtungsfähigkeiten der einzelnen Schüler setzen, zu reformieren. Leider fördert die rumänische Schule nur den Grundsatz, Informationen zu lernen und diese zu wiedergeben, ohne dass der Schüler diese tiefgründig versteht, ohne dass er daraus das entnehmen kann, was er braucht. Viele Aspekte des rumänischen Lehrplans sind einfach nicht nützlich und überladen ihn noch zusätzlich.“
Es ist also eine Frage der Lehrmethode und der Lehrpläne. Der funktionale Analphabetismus ist demokratisch“ in der Gesellschaft verbreitet, egal ob wir über Städte oder Dörfer sprechen, meint Cristian Hatu.
Den funktionalen Analphabetismus finden wir nicht nur in benachteiligten Regionen. Es gibt einen schwachen Zusammenhang zwischen dem sozial-wirtschaftlichen Stand und der Leistung des Schülers, was z.B. Mathematikwissen anbelangt. Dieser Zusammenhang liegt irgendwo bei 17%-19%.“
Damit sich die Lage ändert, benötigt man ein neues Bildungsmuster, das sich auf Lernen und Verstehen stützt. Was das heißt, erfahren wir von Cristian Hatu.
Man müsste sich als Lehrer bemühen, die Lehrwerkzeuge anzuwenden, sodass der Schüler das besprochene Thema besser versteht, egal ob in Physik, Mathematik oder in der Literatur. Man muss den Schülern zeigen, welcher Zusammenhang zwischen dem besagten Thema und dem Alltag besteht. Natürlich gibt es unter uns Lehrer, die das tun. Sie haben erkannt, dass es darum geht, und da bemühen sie sich alleine in diese Richtung. Einige haben Kurse abgeschlossen, aber die Mehrheit kann diese Art von Werkzeugen nicht von alleine ausarbeiten. Für die Lehrer müssen Kurse veranstaltet werden, um ihnen diese Lehrweise beizubringen. Alleine kann man solche Fähigkeiten nur sehr selten erzielen. Alles hängt von den Entscheidungsträgern ab.“
Eine Änderung wollen insbesondere jene, die direkt betroffen sind, denn der funktionale Analphabetismus, den man zuerst in der Schule erkennt, wird auf dem Arbeitsmarkt noch deutlicher. Vlad Ştefan, Vorsitzender des Nationalen Schülerrates.
Man stellt es fest, wenn es um nationale oder Abiturprüfungen oder um internationale Prüfungen geht, die sich mehr auf Allgemeinwissen oder auf die Kritik- und Bewertungsfähigkeit des Schülers stützen. Die rumänischen Schüler, die in einem veralteten Bildungssystem lernen, sind den Anforderungen der rumänischen oder des europäischen Arbeitsmarktes nicht gewachsen.“
Die Umwandlungen des Arbeitsmarktes in den letzten Jahrzehnen setzen einen gewissen Anpassungsgrad voraus, den die rumänische Schule vorerst nicht fördert. Am Mikrophon ist wieder Cristian Hatu, Gründungsmitglied des Zentrums für Bildungsevaluierung und –analysen.
Die Menschen wechseln ihren Beruf ungefähr drei- bis viermal im Laufe ihres aktiven Lebens, laut einer Studie der Weltbank, die ich vor einigen Jahren gelesen habe. Es entsteht die Frage: Was macht die Schule und wie wird ein Schüler ausgebildet, damit er sich in seinem Erwachsenenleben an einen neuen Beruf anpassen kann? Auch wenn es ein Mensch schafft, seinen Beruf beizubehalten, muss er sich trotzdem an die sich ändernden technischen Gegebenheiten anpassen. Es gibt immer mehr Situationen, in denen der Angestellte verschiedene Situationen rationell ansetzen muss, mit denen er in der Vergangenheit nicht konfrontiert wurde. Die Schule muss vor allem seine kritische Denkweise und seine Problemlösungsfähigkeit, seine Kreativität ausbilden.“
Die Arbeitskraft muss sich also in einer dynamischen Wirtschaft laufend anpassen. Dafür benötigt diese gewisse Kompetenzen, die ihr nur die Schule verleihen kann. Funktionale Analphabeten sind aus diesem Gesichtspunkt am wenigsten vorbereitet.