Climb Again: durch Klettertherapie zu mehr Eigenständigkeit
Climb Again“ ist ein Bukarester Sportverein, der seit 2014 kostenlose Klettertherapiesitzungen für Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Behinderungen organisiert.
Roxana Vasile, 14.06.2023, 18:20
Climb Again“ ist ein Bukarester Sportverein, der seit 2014 kostenlose Klettertherapiesitzungen für Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Behinderungen organisiert: Seh- und Hörbehinderungen, Autismus oder neuromotorische Störungen lassen sich durch Klettern besser in den Griff bekommen. Gegründet wurde der Verein von Claudiu Miu, einem ehemaligen Balkan-Klettermeister, der ein großes Herz für Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen hat. Bei Climb Again“ darf jeder mitmachen und das soziale Engagement des Vereins unterstützen. Nichtbehinderte Menschen bezahlen für Kurse und Mitgliedschaften und ermöglichen somit die kostenlose Beteiligung von Kindern und Jugendlichen mit verschiedenen Behinderungen.
Răzvan Nedu ist Trainer bei Climb Again“ und erläutert die therapeutische Wirkung des Kletterns:
Es ist ein Sport, der dich zwingt, geistesgegenwärtig zu sein, genau zu verstehen, was in deinem Körper vorgeht, er ermöglicht einem, sich bestimmter einschränkender Ängste bewusst zu werden, die man verinnerlicht hat oder einem eingeflößt wurden. Es gilt zu erkennen, dass man Dinge einfach tun kann, wenn man seine Angst überwindet. Man lernt, Menschen zu vertrauen und mit ihnen zu kommunizieren, denn Klettern ist ein Sport, bei dem der eine klettert und der andere den Partner absichert — es ist ein Teamsport. Und für Menschen mit Behinderungen ist Klettern — wie für normale Menschen — ein Sport, bei dem die Route Standard ist, aber die menschlichen Fähigkeiten eben unterschiedlich sind. Manche haben einen größeren Körperbau, manche sind stärker oder schwächer, manch andere haben eine Sehbehinderung, wiederum andere haben eine Lähmung oder ein fehlendes Körperglied. Man lernt, es auf seine eigene Art zu tun, man lernt, sich dem anzupassen, was der Körper hergeben kann, um die Kletterpartie zu bewältigen.“
Entgegen gängiger Meinungen ist Klettern kein Extremsport. Es geht darum, aus eigener Kraft eine Felswand oder eine künstliche Platte hochzuklettern, um den Gipfel zu erreichen oder eine vorgegebene Route zu bewältigen. Solange der Kletterer und sein Sicherungspartner alle Sicherheitsmaßnahmen befolgen, ist das Risiko gleich null. Für Menschen mit Behinderungen kann das Klettern zudem enorme körperliche und geistige Vorteile mit sich bringen, erläutert weiter der Trainer Răzvan Nedu:
Der Schwerpunkt liegt nicht auf dem, was ein Kletterer mit einer körperlichen Behinderung nicht tun kann. Wen jemand mit Sehbehinderung z.B. die Griffe nicht sehen kann, dann sagt ihm der Partner, wo sie sind. Wenn jemand sein Bein nicht hoch genug heben kann, arbeiten wir entweder an der Beweglichkeit oder wir finden einen anderen Weg, etwa die Hände so zu positionieren, dass es einfacher wird. Es geht vor allem darum, Lösungen zu finden. Im Alltag suchen Menschen mit Behinderungen nicht immer nach Lösungen. Sie bleiben bei der Tatsache stehen, dass es zu viele Hindernisse, zu viele Nachteile gibt. Beim Klettern wird man gezwungen, Lösungen zu finden, die den eigenen körperlichen Fähigkeiten entsprechen. Es gibt viele Möglichkeiten und Wege, Hindernisse zu überwinden, man muss es nur wollen. Und das überträgt sich auf das alltägliche Leben. Wenn man gelernt hat, Lösungen auf einer Kletterroute zu finden, bleibt diese Fähigkeit nicht auf die eine oder zwei Stunden in der Woche in der Kletterhalle beim Verein beschränkt. Denn wenn man gelernt hat, Hindernisse zu überwinden, kann man das auch im Alltag anwenden.“
Beim Klettern lernen Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, ihren eigenen Kräften zu vertrauen, und entkommen somit dem überfürsorglichen Milieu, in dem sie oft eingemauert werden, weil ihre Angehörigen befürchten, dass sie sich an eine nicht selten unfreundliche oder gar feindliche soziale Umgebung nicht anpassen könnten. Indem sie zusammen mit nichtbehinderten Kindern klettern, verstehen sie, dass sie nicht weniger wert sind als sogenannte normale“ Kinder. Der Trainer Răzvan Nedu ist ein lebendes Beispiel dafür, dass man Leistungssport auch mit einer Behinderung treiben kann. Im folgenden erzählt er, wie er als Sehbehinderter zum Klettern kam.
Vor fast sieben Jahren tourte der Sportverein »Climb Again« mit einer mobilen Werbetafel durch Schulen für Sehbehinderte im ganzen Land und kam eines Tages auch ins Gymnasium, das ich damals besuchte. Ich war schon damals sportlich und machte viel Bewegung und Krafttraining. Das Klettern fesselte mich auf Anhieb, es gefiel mir besser als die Fitnessübungen im Studio. Und als ich das erste Mal vor einem Felsen stand, hat mich das total fasziniert. Ich kann zwar nicht sagen, dass meine Fähigkeiten am Anfang außergewöhnlich waren; doch Claudiu, der Gründer von »Climb Again« und Trainer der Gruppe, sagte: ‚Komm, lass uns zu Wettkämpfen gehen, dort kannst du spüren, wie es wirklich ist.‘ Und das taten wir! Am Anfang hatte ich keine herausragende Leistung, aber ich war sofort motiviert, mich weiterzuentwickeln.“
Răzvan Nedu kann laut Ärzten nur 1 % von dem sehen, was Menschen mit intaktem Sehvermögen wahrnehmen. Tagsüber nimmt er seine Umgebung wie abstrakte Kunst wahr, wie er selber sagt, d.h., er kann nur Licht und Schatten unterscheiden und nur durch Logik und mit Hilfe anderer Sinne herausfinden, in welcher Umgebung er sich gerade befindet. In der Nacht wird alles schwarz mit weißen Punkten. Er besucht gerne Schulen für Sehbehinderte, um Menschen wie ihm den Umgang mit dem weißen Tast- und Signalstock beizubringen. Aber seit er das Klettern für sich entdeckt hat, kann er sich ein Leben ohne diese Sportart nicht mehr vorstellen. Klettern ist zu seinem Lebensinhalt geworden. Nebst seiner Tätigkeit als Trainer beim Verein Climb Again“ ist er Mitglied des Nationalen Paraclimbing-Teams. Er ist mehrfacher Medaillengewinner bei Weltcups und Weltmeisterschaften im Klettern für Menschen mit Behinderungen. Und er hat bislang den Mont Blanc, den Elbrus, den Aconcagua und das Matterhorn bestiegen. Zum Schluss erzählt Răzvan Nedu, wie er die innere Kraft findet, all diese Leistungen zu vollbringen.
Die Grenzen liegen eher in unserem Kopf als in unserem Körper. Wir denken, dass wir bestimmte Dinge nicht tun können, und dann tun wir sie einfach nicht. Wenn wir aufhören, darüber nachzudenken, und einfach loslegen, wird es immer eine Lösung geben. Die Natur und unsere Welt sind wunderbar. Man muss sie nur entdecken wollen, die Angst ablegen, Köpfchen haben, aber nicht kopfüber hineinspringen. Und wenn man es langsam angeht und versteht, dass es Zeit braucht, dann kann man in kleinen Schritten fortschreiten und dabei viel weiter kommen, als man es sich anfangs vielleicht vorgestellt hatte. Es braucht einfach Beständigkeit.“