Anhaltende Proteste gegen Regierung: Rumänien hält durch
Mit dem Hashtag #REZIST (#ICHHALTEDURCH) machen die seit gut zwei Wochen protestierenden Rumänen ihre Empörung gegen die amtierende sozialdemokratische Regierung auf den sozialen Netzwerken bekannt.
Corina Sabău, 15.02.2017, 17:45
România #REZISTĂ (Rumänien #HÄLTDURCH). So lautet das Fazit der rumänischen und der internationalen Presse nach mehr als 15 Tagen Protestdemonstrationen, bei denen mehrere Hunderttausend Menschen zusammengekommen waren. Am vergangenen Sonntag versammelten sich rund 50 Tausend Demonstranten vor dem Sitz der Regierung in Bukarest. Viele Internetnutzer änderten ihr Profilbild auf Facebook mit dem Hashtag #REZIST (#ICHHALTEDURCH). Weniger als einen Monat nach ihrem Amtsantritt löste die von der Sozialdemokratischen Partei geführte rumänische Regierung die größte Protestbewegung der rumänischen Bürger seit dem Fall des Kommunismus im Jahr 1989. Rot, Gelb, Blau: Zehntausende Demonstranten bildeten am Sonntag in Bukarest eine riesige Trikolore vor dem Regierungssitz. Die Demonstranten hielten Papierbögen in den Nationalfarben Rot, Gelb und Blau hoch und leuchteten sie mit ihren Handys an. Sie forderten den Rücktritt der Regierung, die sie beschuldigen, den Kampf gegen Korruption unterminieren zu wollen“, schrieb die AFP, die vom Bukarester Victoria-Platz (Siegesplatz) berichtete.
Der Politkommentator Cristian Pârvulescu ist der Meinung, dass die rumänische Empörung einen neuen Anfang hat:
Mehr als ein Jahr nach der Brandkatastrophe im Club Colectiv schien die rumänische Empörung ausgeklungen zu sein, aber die Fehler der Grindeanu-Regierung und der Mehrheitskoalition PSD-ALDE haben die Flamme der Proteste erneut zum Auflodern gebracht. Die Masse der empörten Rumänen ist ein neuer Akteur auf der politischen Bühne, und die klassischen politischen Parteien müssen diese Kraft in Betracht ziehen. Man kann nicht regieren, wenn 600.000 empörte Menschen auf der Straße protestieren. Die aus dem 19. Jh. stammende Idee, dass das Parlament alles tun und lassen kann, ist veraltet und äußerst gefährlich. Das Parlament ist eine wichtige Einrichtung, aber man kann die Demokratie nicht auf das Parlament reduzieren. Solange die Regierung nicht bereit ist, die Meinungsvielfalt in der Gesellschaft zu akzeptieren, werden die Protestdemonstrationen weitergehen.“
Die über achtzigjährige Schriftstellerin und Literaturübersetzerin Nora Iuga hat sich vom ersten Moment an den Protesten auf dem Victoria-Platz angeschlossen:
Seitdem der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Liviu Dragnea, die politische Bühne betreten und die heutige gespannte Lage verursacht hat, ist mir klar geworden, dass wir in eine sehr gefährliche politische Sackgasse geraten sind. Wiederum ist es aber wunderbar, dass dadurch der Geist der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Zivilisation wieder wach wurde. Vor allem die jungen Leute, aber nicht nur sie, auch die älteren Rumänen bringen diesen lebendigen Geist vor die Welt. Nicht nur vor uns, die fast nicht mehr an diese Werte glaubten, sondern vor die gesamte Welt. Ich hatte fast kein Vertrauen mehr, aber jetzt bin ich glücklich, eine rumänische Zivilgesellschaft zu entdecken, nach der wir uns seit 1989 sehnten. Während des Kommunismus schien die rumänische Zivilgesellschaft gestorben zu sein, aber schauen Sie nur, was in diesen Tagen geschieht. Das ist atemberaubend! Die Bürger in ganz Rumänien sind bereits ein wachsender Kern der Zivilgesellschaft und das ist überwältigend.“
Abgesehen von den pragmatischen Resultaten wie das Zurückziehen der umstrittenen Eilverordnung Nr. 13 und der Rücktritt des Justizministers Florin Iordache gab es infolge der allabendlichen Protestdemonstrationen der letzten zwei Wochen noch einen großen moralischen Sieg der Zivilgesellschaft, und zwar die Entwicklung einer Protestkultur in Rumänien, meint der Schriftsteller Radu Vancu. Entstanden war diese Protestkultur einerseits aus der enormen Zahl der auf der Straße demonstrierenden Bürger und andererseits aus den gemeinsamen Werten, die alle Protestler teilten, auch wenn ihre politischen Optionen unterschiedlich waren. Radu Vancu:
Auf der Straße protestieren linksorientierte und rechtsorientierte Rumänen, und auch Leute, die politisch neutral sind. Alle demonstrieren aber, um dieselben moralischen Werte durchzusetzen. Zum ersten Mal seit 27 Jahren gibt es in Rumänien wieder gemeinsame Werte, die ungeachtet der politischen Optionen die Rumänen vereint haben. Die Tatsache, dass wir noch einmal solidarisch sein konnten, ist ein enormer Gewinn, denn bei uns war die Solidarität verlorengegangen. Ein zweiter wichtiger moralischer Gewinn bezieht sich auf das Image Rumäniens in der Welt. Nicht nur die lobenden Artikel über uns in der französischen, englischen, amerikanischen, italienischen Presse sind ein großer Gewinn, sondern vor allem die Kommentare auf den Internetseiten dieser Publikationen. Rumänien wird jetzt als ein Beispiel für Demokratie betrachtet.“
Laut Răzvan Martin von der Organisation ActiveWatch beweisen die massiven Proteste der letzten Wochen, dass die Bekämpfung der Korruption ein wichtiger Punkt auf der Agenda der rumänischen Bürger ist. Die Menschen reagieren sofort, wenn das Risiko einer Rückentwicklung droht, nachdem Rumänien in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte im Kampf gegen Korruption verzeichnete:
Der größte Gewinn ist, meiner Meinung nach, dass die Gesellschaft eine starke Reaktion zeigt. Die Bürger haben ihre Macht entdeckt, sie organisieren sich, es ist ihnen klargeworden, wie mächtig sie sind, wie sie zusammen ›Nein‹ sagen können. Ich glaube, dass die ersten Anzeichen dieser Entwicklung bereits 2011 und 2012 zu spüren waren. Damals haben die Proteste nicht so große Wellen verursacht — sie waren kleiner und richteten sich auf Probleme, die auf der öffentlichen Agenda nicht besonders sichtbar wurden. Die Zivilgesellschaft hat aber ihre Muskeln trainiert und sie zeigt nun ihre Kraft.“
Ein großer Gewinn dieser heißen Wochen ist, dass die Menschen auf der Straße ihre Stimme erhoben haben. Ihre Hartnäckigkeit, ihr Durchhaltevermögen hat die Regierenden zu einer Reaktion gezwungen, meint die Literaturkritikerin Luminiţa Corneanu:
Was mir am wichtigsten scheint, vielleicht wichtiger als die kurzfristigen konkreten Gewinne, ist, dass wir uns als Rumänen wiederentdeckt haben. Wir haben unser Selbstvertrauen und das Vertrauen in die grundsätzlichen Mechanismen der Demokratie wiederentdeckt. Besonders klar wurde uns das Verhältnis zwischen den Wählern und den Gewählten, zwischen den Bürgern und denjenigen, die von den Bürgern zu Regierenden gewählt wurden. Die Bilder mit den Demonstranten aus Bukarest, Bilder, die um die Welt gegangen sind, haben unsere Herzen mit Stolz erfüllt. Rumänien und die Rumänen sind jetzt ein Beispiel für die Vereinigten Staaten und Großbritannien — ein Beispiel dafür, ›wie man’s macht‹. So etwas ist uns bis heute noch nie passiert, und daher halte ich diese Entwicklung für besonders wichtig. Wir haben erfahren, wie stark wir sind und wie wichtig es ist, zusammenzuhalten und unsere Meinung zum Ausdruck zu bringen.“
Der Schauspieler Tudor Aaron Istodor ist einer der Hunderttausenden, die sich entschlossen haben, durchzuhalten:
Eine Stimme ist wieder laut geworden, die Stimme der Straße. Ich betrachte mich nicht als manipuliert, ich gehöre keiner politischen Partei an, ich bin weder für ›diese‹ noch für ›jene‹. Als ich aber feststellte, dass etwas Falsches geschieht, dass es sich um einen Amtsmissbrauch handelt, musste ich einfach auf die Straße gehen, wie jeder andere Bürger. Ich war da, ich war eine Stimme dazu in der Menge, und es war wichtig, dass wir so viele waren, so viele, die verspürt hatten, etwas sei grundsätzlich falsch und müsse korrigiert werden. Nun haben wir einen Fehler korrigiert, und das war, meiner Meinung nach, ein Gewinn.“