Urbane Happenings: Wanderbriefe in der U-Bahn
: Wanderbriefe mit aufheiterndem Inhalt, Musikfestivals und Lektüresitzungen – all das verspricht der Bukarest U-Bahnbetrieb seinen Fahrgästen. Die U-Bahnstationen werden zum Kulturraum.
Ana-Maria Cononovici, 07.04.2016, 18:07
Das Buch Die Geschichte des Briefes“ von Mario-Ruggiero Lucci zitiert die Meinung des griechischen Historikers Hellanikos, der den ersten handgeschriebenen Brief einer Frau, der Tochter des persischen Königs Kyros der Große, zuschreibt. Laut dem Buch entwickelte sich die Kunst des Briefschreibens irgendwann im 6. Jahrhundert v.Chr., gut zwei Jahrtausende nach Entstehung der ersten Schriftformen. Die größte Entwicklung erfuhr die Kunst des Briefschreibens jedoch im 18. Jahrhundert, als sie sogar in den Schulen unterrichtet wurde.
Mit der Zeit und dem Aufkommen neuer Technologien nahmen wir allerdings immer mehr Abstand von dieser Praxis. Kurze, eilige Mitteilungen in Form von SMS oder E-Mails ersetzten die weitschweifigen Briefe. Die auf den Kern reduzierte, kurz gefasste Kommunikation ist derzeit Gang und Gäbe. Umso ungewöhnlicher scheint demnach die Initiative des Bukarester U-Bahnbetriebs, der im Laufe des Monats März die Fahrgäste mit schön geschriebenen Briefen, verpackt in versiegelten Umschlägen, bei der U-Bahn empfing. Evelyne Croitoru, Leiterin der Presseabteilung von Metrorex, erzählte uns über das Vorhaben:
Die Fahrgäste, die die U-Bahn benutzten, wurden sehr angenehm überrascht. Wir verteilten 700 Wanderbriefe, die jeweils positive Botschaften und Gedanken vermittelten. Unser Ziel war, den Menschen eine Freude zu bereiten. Die gemeinnützige Organisation »Kunst beißt nicht« sowie mehrere begeisterte Volontäre unterstützten uns bei unserer Initiative. Die Freiwilligen schrieben die 700 Briefe per Hand. Wir steckten sie dann in Umschläge, versiegelten diese mit roten Wachssiegeln und verteilten sie den Fahrgästen an der U-Bahn. Wir forderten sie auf, die Freude weiterzugeben. Alle Fahrgäste waren von unserer Initiative positiv überrascht. Sie haben sich bei uns bedankt. Eine Person sagte uns, es sei das erste Mal, dass sie einen handgeschriebenen Brief erhielt. Andere wiederum meinten, unsere Geste hätte ihren Tag schöner gemacht. Die Bereitschaft der Menschen, zu kommunizieren, war unsere größte Genugtuung.“
Die Fahrgäste nahmen die Überraschung mit Freude an — so unsere Gesprächspartnerin:
Die U-Bahn war wieder einmal viel mehr als ein öffentliches Verkehrsmittel. Sie stand für Harmonie, Emotion, Lebensfreude. Die Initiative »Wanderbriefe bei der U-Bahn« fand schon zum zweiten Mal statt. Auch letztes Jahr kam unser Vorhaben sehr gut bei den Fahrgästen an. Auch das von den Massenmedien gezeigte Interesse beeindruckte uns. Wir sind fest davon überzeugt, dass die U-Bahn der richtige Ort für derartige Veranstaltungen ist.“
Die Bukarester U-Bahn bereitet ihren Fahrgästen auch noch weitere Überraschungen. Dazu Evelyne Croitoru:
Im April haben wir mehrere angenehme Überraschungen für unsere Fahrgäste, unter anderem das vierte Festival für klassische Musik bei der U-Bahn. Diesen Event veranstalten wir ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem Verein »Kunst beißt nicht«. Mitglieder der Oper, der Musikakademie und der Philharmonie geben an vier U-Bahnstationen live Konzerte im Lauf von fünf Tagen. Das Publikum hat die Gelegenheit, unvergessliche Klänge zu hören. Die Musik von Mozart, Verdi, Enescu oder Strauss wird Sie begeistern. Die Freudeaugenblicke wurden für Sie von Cristina Dobrescu und Loredana Munteanu vorbereitet. Das Festival hat auch eine Facebook-Seite, Metroul Tânăr (die junge U-Bahn), wo Sie mehr Einzelheiten zum Musikfest finden können.“
Bei der U-Bahn wurde gelesen, gesungen und Tango getanzt. Wir wollten von Evelyne Croitoru erfahren, wie sie auf die Idee gekommen sind, die U-Bahnstationen in einen Kulturraum zu verwandeln.
Wir stellten fest, die Fahrgäste freuen sich, wenn Sie neben der einfachen Fahrt mit der U-Bahn weitere kleine Freudemomente genießen können. Wir haben uns Europa zum Vorbild genommen, wir schauten, was für Veranstaltungen in anderen europäischen U-Bahnstationen organisiert werden. Die Menschen werden gelegentlich mit einem Flashmob bei der U-Bahn empfangen: Wie aus heiterem Himmel erscheint ein Orchester, es spielt die Ode an die Freude und zieht sich dann diskret zurück, unter dem Beifall des Publikums. Die Menschen fühlen sich erheitert. Sie setzen ihre Fahrt fort, sind aber von dem musikalischen Moment begeistert. Wir stellten außerdem fest, dass viele Menschen, die die U-Bahn benutzen, eine traurige Miene haben. Sie sind in Gedanken versunken, beschäftigt vom Alltag. Wir wollten sich aufheitern. Aus diesem Grund veranstalteten wir auch in der Vergangenheit das Festival für klassische Musik oder die Initiative mit den Wanderbriefen. Darüber hinaus organisierten wir Lektüresitzungen bei der U-Bahn, Pantomimeauftritte — das Theater »Masca« wirkte mit. Es gab auch noch viele andere spannende Aktionen. Wir versuchen dadurch, die Fahrgäste für ein paar Momente aufzuheitern!“
Wir baten Evelyne Croitoru, uns ein paar Fragmente aus den verteilten handgeschriebenen Wanderbriefen vorzulesen:
Lieber Empfänger dieses Briefes, das Leben stellt uns viele Hindernisse in den Weg, die uns herausfordern! Sei stark, verfolge deine Träume, lass deine Mitmenschen wissen, wie wichtig sie für dich sind. Oder eine andere Botschaft: Lieber Empfänger, du kannst den Brief behalten oder ihn weitergeben — irgendeinem Unbekannten, der durch die Stadt geht. Lächele andere Menschen an. Merkwürdig, es klappt aber meistens. Eigentlich fast immer. Wir wünschen dir einen wunderschönen Tag! Metrorex und das Team von livrezdragoste.ro.“
Die U-Bahnmitarbeiter sendeten über die Wanderbriefe eine positive Botschaft an die Benutzer der U-Bahn. Gleichzeitig waren die Briefe ein optimistisches Versprechen — die Fahrt mit der U-Bahn sollte dadurch angenehmer werden.