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Die „gelebte Bibliothek“ – Selbsthilfegruppe für Menschen mit psychosozialen Störungen

Eine Gruppe für bürgerliche Initiativen hat eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit psychosozialen Störungen gegründet. In der gelebten Bibliothek“ kann man mit den beseelten Büchern“ auch sprechen.

Die „gelebte Bibliothek“ – Selbsthilfegruppe für Menschen mit psychosozialen Störungen
Die „gelebte Bibliothek“ – Selbsthilfegruppe für Menschen mit psychosozialen Störungen

, 19.03.2015, 17:44

Am Anfang gab es acht beseelte Bücher“, die die Leser der gelebten Bibliothek“ ausleihen und von der ersten bis zur letzten Seite“ lesen konnten. Die gelebte Bibliothek“ ist ein Projekt der Gruppe Decid pentru mine!“ (dt. Ich entscheide für mich selbst!“), der ersten Gruppe für bürgerliche Initiative in Rumänien, die von Menschen mit psychosozialen Behinderungen gegründet wurde.



Die Bücher der gelebten Bibliothek“ kann man aufschlagen, um ihre Geschichten wie in einer richtigen Bibliothek zu lesen. Der Unterschied ist dabei, dass in der gelebten Bibliothek“ die Hauptperson des Buches auf jede Frage des Lesers“ direkt antworten kann.



Cătălin ist 37 Jahre alt. Die erste psychotische Episode erlebte er vor drei Jahren. Der ehemalige Introvertierte begann auf einmal zu schreien und wurde mit paranoider Schizophrenie diagnostiziert. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte er die Fakultät für Öffentliche Verwaltung der Nationalen Hochschule für Politik- und Verwaltungswissenschaft besucht und war mehrmals angestellt worden. Das Motto seines Buches in der gelebten Bibliothek“ ist: Es steht in unserer Kraft, das zu erreichen, was wir uns vornehmen“. Cătălin:



Seit meiner Kindheit habe ich alles erreicht, was ich mir vorgenommen hatte, auch wenn ich dafür viel opfern musste. Ich war schon immer introvertiert und ich hatte viel Zeit zur Verfügung. Wenn man über lange Zeit allein ist, beginnt man gewisse Gesten bis ins Unendliche zu wiederholen, zum Beispiel seine Finger zusammenzuflechten, wie Kinder es manchmal tun. Ich aber kann meine Hände extrem verbiegen, und ich kann auch meine Fü‎ße benutzen, um Gegenstände anzufassen. Als ich meine psychotische Episode hatte, wurde ich ans Bett gefesselt, aber es nutzte nicht, ich entfesselte mich sofort, wie Harry Houdini.“




Nach seiner psychotischen Episode konnte er nur noch als Wachmann arbeiten, und da ging bei ihm ein Licht auf:



So ist unser Leben, wir arbeiten, arbeiten hart, und sagen immer wieder, dass es uns gut geht. Wir trinken eine Tasse Kaffee, wir nehmen eine hei‎ße Dusche, und dann geht’s uns wieder gut. Jeder hat seine Tricks, seine Geheimnisse. Mein Geheimnis ist die hei‎ße Dusche. Nachher bin ich wieder entspannt. Am besten ist es, entspannt zu sein.“




Filip ist 41 Jahre alt und hat einen Hochschulabschluss — er studierte Rechtswissenschaften an der Bukarester Universität. Zurzeit ist er Mitarbeiter der Organisation Active Watch, arbeitete auch als Journalist und seine Hobbys sind Literatur, Geschichte und Bergwanderungen. Er wurde aber mit bipolarer affektiver Störung diagnostiziert und musste seine Pläne ändern. Filip:



Was ich mit 19 oder 20 Jahren plante, kann ich leider nicht mehr erreichen, das ist mir schon klar. Ich bin aber viel ausgewogener als vorher, ich komme mit der Welt besser zurecht. Ich könnte doch mindestens die Hälfte, oder sogar mehr von dem erreichen, was ich wollte — es hängt von den Umständen ab und auch von meinem eigenen Willen. Ich war an der Grenze zwischen zwei Welten. Ich befinde mich noch an dieser Grenze, und es fällt mir schwer, über diese Grenzlinie zu gehen, höchstens mit kleinen Jobs als Kurier, und das empfinde ich als frustrierend.“




Da er sich aber entschlossen hat, ein beseeltes“ Buch in der gelebten Bibliothek“ zu sein und uns davon zu überzeugen, Vorurteile gegenüber Menschen mit psychosozialen Problemen abzubilden, macht uns Filip auch einige Vorschläge:



Im Westen stellen die Arbeitgeber auch Personen mit Behinderungen ein und genie‎ßen dabei gewisse Steuererleichterungen. Solche Ma‎ßnahmen gibt es auch in Rumänien, aber die hiesigen Arbeitgeber sind daran nicht besonders interessiert. Ich hätte den Vorschlag, dass man eine Sendung im Zentrum »Trepte« (dt. »Stufen«) des psychiatrischen Krankenhauses Obregia in Bukarest macht. Dort befinden sich mehrere »beseelte Bücher«, so dass man einen Meinungs- und Mentalitätenaustausch haben kann. Dort findet man viele Gesprächspartner, die Zahl variiert ständig, die Leute kommen und gehen, manche finden Arbeitsstellen und gehen für eine gewisse Zeit weg. Wenn sie in der Gesellschaft Schwierigkeiten bekommen, kommen sie wieder ins Krankenhaus.“




Andreea ist 28 Jahre alt. Vor vier Jahren, als sie dabei war, ihr Magisterstudium im Bereich Kunstgeschichte abzuschlie‎ßen, fiel sie in eine schwere Depression. Sie hat beschlossen, ein beseeltes Buch“ zu werden, weil sie zum besseren Verstehen der Menschen mit psychosozialen Problemen beitragen möchte. Andreea:



Plötzlich hat mein Gehirn es abgelehnt, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich habe mich völlig zurückgezogen, ich habe mich isoliert, ich wollte warten, bis diese Episode, die ich nicht meistern konnte, von selbst verschwindet. Ich kam in eine Klinik. Nach längerer Zeit normalisierte sich die Situation und ich versuchte, mein normales Leben dort wiederaufzunehmen, wo ich es unterbrochen hatte. Es war aber irgendwie trügerisch, ich beteiligte mich an gro‎ßen Projekten, die leider scheiterten, und das Scheitern lie‎ß mich wieder in die Dunkelheit fallen, die ich bereits kannte. Ich war nicht mehr so erschrocken wie beim ersten Mal und ich fand wieder aus der Depression heraus. Jetzt versuche ich, in meinen Aktivitäten das Beste zu geben. Neben dem Active-Watch-Projekt, an dem ich teilnehme, arbeite ich mit meiner Schwester in ihrer Keramik-Werkstatt.“




Carmen ist 24 Jahre alt. Sie ist Absolventin der Fakultät für Kommunikation und Public Relations in Bukarest. Zurzeit arbeitet sie in einer Nichtregierungsorganisation im Bereich Künstlermanagement. Vor einem Jahr wurde sie mit unipolarer Depression diagnostiziert. Die ersten Anzeichen ihrer Krankheit waren, dass sie nicht mehr fähig war, die einfachsten, normalsten Gesten zu machen. Carmen:



Vom Bett aufstehen, meine Hausschuhe anziehen, einige Schritte machen — das war für mich viel zu schwer, deshalb blieb ich lieber im Bett liegen. Nach einer gewissen Zeit konnte ich über mein Problem sprechen, ich konnte meinen Eltern davon erzählen, ich sagte auch meinen Arbeitskollegen, dass ich ein Problem habe. Die meisten waren sehr offen, sie haben mich verstanden und akzeptiert, aber es gab auch Leute, die mich fragten, ob ich wirklich so etwas brauche, ob ich mir nicht zu viele Sorgen machen würde.“




Carmen ist ein beseeltes Buch“ und das ist ihre Botschaft:



Ich bin nicht die erste, die jetzt über Depression spricht, darüber wurden viele andere Bücher geschrieben. Das sind echte Kunstwerke, wunderbare Bücher zu diesem Thema. Ich habe aber beschlossen, mich zu öffnen, ein Tabu zu brechen. Das machen wir alle, wir brechen Tabus. Eine gro‎ße Hilfe war für mich das Buch »The Noonday Demon: An Atlas of Depression« (dt. »Saturns Schatten. Die dunklen Welten der Depression«) von Andrew Solomon. Dieses Buch hat mich wieder zum Leben erweckt.“




Unsere heutige Lektüre ist zu Ende, aber in der gelebten Bibliothek“ gibt es noch viele beseelte Bücher“, die wir aufschlagen sollten.

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