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Sozialgeschichte des Kommunismus: Die Generation mit dem Schlüssel um den Hals

Die heute Mittvierziger bis 50-Jährigen werden als Generation mit dem Schlüssel um den Hals bezeichnet. In der Zeit nach dem Abtreibungsverbot von 1966 geboren, wohnten sie zumeist in Plattenbauten und wurden tagsüber von Eltern sich selbst überlassen.

Sozialgeschichte des Kommunismus: Die Generation mit dem Schlüssel um den Hals
Sozialgeschichte des Kommunismus: Die Generation mit dem Schlüssel um den Hals

, 29.06.2015, 18:39

Diejenigen, die zwischen 1965, als Ceauşescu an die Macht kam, und 1970 in Rumänien geboren wurden, gehören der sogenannten Generation mit dem Schlüssel um den Hals“ an. Eine andere Bezeichnung für die heute Mittvierziger bis knapp 50-Jährigen ist Dekretlerchen“ (rum. decreţei“) — die Dekret-Generation. Zurückzuführen ist dieser sarkastisch-spöttische Begriff auf das Dekret 770 von 1966, mit dem die Abtreibungen in Rumänien verboten wurden. Die Kinder trugen den Wohnungsschlüssel an einer Schnur um den Hals und wurden tagsüber sich selbst überlassen. Die Eltern arbeiteten in Fabriken und hatten wenig Zeit für sie.



Die Historikerin Simona Preda hat die Befindlichkeiten der Generation mit dem Schlüssel um den Hals“ unter die Lupe genommen. Sie selbst gehört dieser Generation an. Simona Preda:



Es ist eine schweigsame und gehorsame Generation, die angehalten wurde, die Partei zu ehren, eine Generation, die zwischen 1965 und 1989 geboren wurde. Es ist die Zeit, in der sich das Stadtbild ändert, es entstehen viele kommunistische Plattenbauten, es werden viele neue Stadtviertel aus dem Boden gestampft. In Rumänien ändern sich die Architektur und die Städteplanung. Wir, die in Kinder-Krippen und nicht bei den Gro‎ßeltern gro‎ß wurden und deren Kindheit an den Plattenbau gebunden ist, wir sind die Generation mit dem Schlüssel um den Hals. Warum wir so brav dastanden? Weil wir der allgegenwärtigen Partei gehorchen mussten. Die Partei lehrte uns, zu gehorchen, sanftmütig zu sein. Unsere Träume mussten den Erwartungen der Partei entsprechen. Die Partei lehrte uns alles, nur keine freien Menschen zu sein. Sie lehrte uns alles, so lange das etwas mit der kommunistischen Utopie zu tun hatte.“



Die Ideologie und die Art und Weise, mit den Bürgern umzugehen, war brutal, das Erziehungssystem repressiv. Der Kommunismus kam 1945 nach Rumänien und in den 1960er und 70er Jahren deutete nichts darauf hin, dass man dieses Regime jemals loswerden könne. Die Menschen hatten eine solche Hoffnung aufgegeben und versuchten sich vor den Eingriffen der Partei in ihr Leben zu schützen. So kam es zur Doppelzüngigkeit vieler Menschen, zu dem, was George Orwell in seinem Roman 1984“ als Doppeldenk“ bezeichnete. Simona Preda dazu:



Wir mussten schon als Kinder lernen, doppelzüngig zu sein. Man durfte in der Öffentlichkeit nicht sagen, was man zu Hause gehört hatte. Vielleicht hörte der Gro‎ßvater oder der Vater Radio Freies Europa, vielleicht gab es Beratungen in der Familie, manche Geheimnisse, von denen keiner etwas erfahren durfte. Nichts durfte nach au‎ßen dringen — und dieses »Au‎ßen« war an sich schon ein ideologisch geprägter Begriff. Das kommunistische Regime hat den Kapitalismus und alles, was von au‎ßen herkam, immer verteufelt.“




Die Entpersönlichung war eine bei Tyrannen beliebte Methode, die Feinde zu vernichten. Für den Kommunismus war es aber eine Staatsdoktrin, mit der die eigenen Bürger ideologiekonform zurechtgestutzt wurden. Die Generation mit dem Schlüssel um den Hals sollte die alte Generation, die noch Spuren bürgerlicher Bildung und Einstellung aufwies, ersetzen. Die Depersonalisation war nicht nur eine Anforderung der kommunistischen Pädagogie, sondern auch eine Methode, das Leben der zukünftigen Erwachsenen in der gleichgeschalteten Gesellschaft zu erleichtern. Die Historikerin Simona Preda erläutert:



Was die Entpersönlichung voraussetzte? Höchstes Ziel des Regimes war, den neuen Menschen zu erschaffen, eine amorphe Masse, in der einzelne Individuen und Leistungen nur in Ausnahmefällen anerkannt wurden. Niemand wurde ermutigt, individuell zu handeln. Man hat die ganze Klasse, die Schule, die Brigade, den Landkreis, aber nicht die Persönlichkeit und die Individualität geschätzt. Das Regime wollte, insbesondere in seiner letzten Phase, Millionen von kleinen »Ichs« in ein riesiges »Wir« umwandeln. Schon die Kleinen und Kleinsten wurden für ideologisierte Jugend-Organisationen wie die »Heimatfalken« oder die »Pioniere« rekrutiert.“




Auf höchster Ebene haben die repressive Pädagogik und die Propaganda zusammengearbeitet, um den neuen, umerzogenen Menschen zu schaffen. Auf einer mittleren Ebene funktionierten die au‎ßerlehrplanmä‎ßigen Tätigkeiten, die landwirtschaftlichen Arbeiten und der Aktivismus der Parteikader und der Lehrer. Auf der untersten Ebene standen die Pläne der Eltern für ihre Kinder, in einer immer mehr feindseligen Welt, wie sich die 1980er Jahre erwiesen haben, zurecht zu kommen.



Überraschenderweise hat gerade die Generation mit dem Schlüssel um den Hals das Regime 1989 gestürzt. Diese entpersönlichte und perspektivlose Generation fand zurück zur Würde und Freiheit und ermöglichte eine Rückkehr zu den demokratischen Werten, welche die kommunistische Tyrannei mit Fü‎ßen getreten hatte.

Timişoara, 35 years ago (photo: Costantin Duma)

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