Nationaldichter Mihai Eminescu: Dekonstruktion eines Mythos
Der Lyriker Mihai Eminescu (1850–1889) gilt als Nationaldichter der Rumänen. Literaturhistoriker bescheinigen ihm, einer der Schöpfer der modernen rumänischen Literatursprache gewesen zu sein.
Steliu Lambru, 23.11.2015, 17:56
Der Lyriker Mihai Eminescu (1850–1889) gilt als Nationaldichter der Rumänen. Literaturhistoriker bescheinigen ihm, einer der Schöpfer der modernen rumänischen Literatursprache gewesen zu sein. Besonders seine patriotischen Gedichte sind zum Gemeingut geworden, viele literarische Exegesen schöpfen fast ausschließlich aus diesem Teil seines Schaffens. Und hier beginnt die Mythologisierung des Poeten. Eminescu entwickelte sich vom Kultdichter zum Mythos. Vieles von dem, das dem Poeten zugeschrieben wurde und als unanfechtbare Wahrheit galt, ist pure Erfindung. Die Analles-Schule, die einflussreiche französische Strömung der Geschichtswissenschaft, entdeckte die Mythen als Forschungsobjekt, mit dem sich später die Fachrichtung Geschichte der Mentalitäten und des Imaginären auseinandersetzte.
Der Historiker Lucian Boia stellte sich die undankbare Aufgabe, den Mythos Eminescu in seinem letzten Buch zu dekonstruieren. Allein der Titel dürfte in den Augen vieler eine Provokation sein: Mihai Eminescu, der absolute Rumäne. Die Entstehung eines Mythos und die Entzauberung“. Lucian Boia dazu:
Der Mythos Eminescu hat mehrere Quellen. Der Personenkult um einen Dichter in gewisser Weise typisch für ein kleines Land mit einer weniger bedeutenden Kultur, ein Land, das um die Überwindung der historischen und kulturellen Verspätung bemüht ist. So sah Rumänien im 19. Jh. aus, als der Mythos Eminescu geschaffen wurde. Der Dichter erscheint wie eine von der Vorsehung bestimmte Figur. Er ist der Rumäne, der alle positiven Eigenschaften in sich vereint und den Genius der rumänischen Nation schlechthin verkörpert. Nach dieser Deutung war Eminescu ein nationales und internationales Genie. Er ist das, was die Rumänen sich selbst und gleichzeitig der ganzen Welt schenken. Eminescu ist der Beitrag der Rumänen zur Weltkultur.“
Der Mythos Eminescu konnte nur in einem Agrarland mit einer konservativen Gesellschaft entstehen — das war im Grunde die rumänische Welt im 19. Jahrhundert, erläutert weiter Lucian Boia:
Natürlich ist es heikel, alles auf eine einzige Persönlichkeit zu setzen. In den bedeutenden Kulturen ist das anders. Die Franzosen, die Deutschen, die Briten verehren wohl kaum eine einzige Persönlichkeit ihrer jeweiligen Literatur oder Kultur im allgemeinen Sinne. Was an Eminescus Wahrnehmung hervorsticht, ist die Tatsache, dass er als das vollkommene Symbol der rumänischen Geistigkeit, der rumänischen Nation inszeniert wird. Er ist nicht nur ein großer Dichter. Allein ein bedeutender Dichter zu sein, reichte nicht aus; ein nationaler Dichter zu sein, bedeutet viel mehr. Mit der Bezeichnung ‚national‘ wurde er über alle anderen Dichter gestellt, womit nicht nur die Bedeutung seines Werks, sondern auch die Identifikation mit der rumänischen Nation hervorgestrichen werden sollte. Das ist im Grunde das Ergebnis einer Frustration der Rumänen, die Folge des Minderwertigkeitsgefühls, ein kleines Land mit einer unbedeutenden oder kaum wahrgenommenen Kultur zu sein.“
Wie entstand aber der Eminescu-Kult? Lucian Boia versucht zu antworten:
Die Verehrung entstand während seiner letzten Lebensjahre. Die wunderschöne Poesie kommt mit dem tragischen Schicksal des Dichters zusammen. Sie verschmelzen. Die Tragik seines Lebens und der Stellenwert seiner Dichtung verflechten sich. In den ersten Jahren nach seiner Entstehung war der Mythos rund um das dichterische Schaffen konstruiert. Wesentlich war also die Poesie, Ideologie war noch nicht im Spiel. Das Ideologische erscheint gleich nach 1900, vor dem Hintergrund nationalistisch-bodenständiger Strömungen wie z.B. des Sämänätorismus. Nach dem vermeintlich viel zu starken ausländischen, pro-westlichen Einfluss folgt eine Etappe, in der der rumänische Bauer, die rumänische Tradition in den Vordergrund gebracht werden. Jetzt wird Eminescu zu einem großen Ideologen des sogenannten ‚Rumänismus‘ hochstilisiert. Danach wird der Mythos immer mehr aufgebauscht, bis jeder das findet, was er sucht. Es geht um einen Mythos, der von allen gebraucht werden kann, einschließlich politischer Akteure jeglicher Couleur.“
Der moldauische Dichter Grigore Vieru setzte mit einem Vers einen Spruch in die Welt, der die Dimension des Mythos Eminescu erahnen lässt: Eminescu soll über uns urteilen“. Wir haben Lucian Boia gefragt, wie man Vierus Vers verstehen könne:
Das bedeutet, dass Eminescu als eine Gottheit des Rumänentums gesehen wird. Er steht über uns und hat immer Recht. Er weiß, woher wir kommen und wohin wir gehen müssen. Er ist unser Führer und Gebieter. Keine andere rumänische Persönlichkeit kann Eminescu überbieten. Wir könnten zwar auch an Stefan den Großen, an Michael den Tapferen denken, Figuren, die sicherlich repräsentativ und stark mythologisiert sind. Aber Eminescu übertrifft sie alle, er ist der perfekte Ausdruck der rumänischen Geistigkeit und des Schicksals der Rumänen in dieser Welt. Eminescu ist der absolute Rumäne, wie es der Essayist Petre Ţuţea treffend formulierte — so treffend, dass ich mir erlaubt habe, seine Worte im Titel meines Buches zu zitieren.“
Mit der Dekonstruktion des Mythos Eminescu will Lucian Boia normale Verhältnisse in der Wahrnehmung des Dichters schaffen und Verschwörungstheorien widerlegen.
Eminescu in den Himmel zu heben, ihn z.B. neben Einstein zu setzen, ist völlig deplatziert und hat keinerlei Rechtfertigung. Die allerhand hirnrissigen Verschwörungstheorien rund um Eminescu haben auch zu negativen Reaktionen geführt. Es gibt zwar Menschen, die von Eminescu regelrecht besessen sind. Es gibt aber auch solche, die nichts mehr von ihm hören wollen, einschließlich jüngerer Menschen. Irgendwann wird man seiner überdrüssig. Man übertreibt viel — in beiden Richtungen — und das schadet dem großen Dichter, der er tatsächlich war. Ich plädiere für die Wiederbesinnung auf den authentischen Menschen, den Dichter Eminescu.“