Kontroverse um Minderheitenpolitik 1918-1989: Lucian Boias Buch „Die Rumänisierung Rumäniens“
In seinem letzten und kontrovers diskutierten Buch schildert der Historiker Lucian Boia die Art und Weise, in welcher der rumänische Nationalstaat nach 1918 ethnisch homogener wurde – auf Kosten der hierzulande lebenden Minderheiten.
Steliu Lambru, 01.06.2015, 17:45
Lucian Boia ist der vielleicht umstrittenste Historiker im heutigen Rumänien: Der Hochschulprofessor hinterfragte alle Klischees und Vorurteile in der gängigen Geschichtsrezeption. In seinem letzten Buch, Cum s-a românizat România“ (zu deutsch in etwa: Die Rumänisierung Rumäniens“), schildert er die Art und Weise, in welcher der rumänische Nationalstaat nach 1918 ethnisch homogener wurde — auf Kosten der hierzulande lebenden Minderheiten. Zwar habe es nicht immer eine gezielte Assimilierungspolitik gegeben und der Prozess der ethnischen Homogenisierung sei keineswegs einzigartig in Europa gewesen, doch habe Rumänien insgesamt einen Teil seiner kulturellen Vielfalt eingebüßt, so der Historiker. Das Buch wurde bereits kontrovers diskutiert. Boia setzte sich allen voran mit den Gründungselementen der Nation auseinander, dabei begann er mit dem Versuch einer Definition:
Im Großen und Ganzen gibt es zwei Nationstypen oder zwei Arten einer nationalen Ideologie, das französische und das deutsche Modell. Hier beziehe ich mich auf das 19. Jahrhundert. Die französische Nation, die auf Grundlage der französischen Revolution entstand, ist eine politische Nation. Das heißt, man gehört dem politischen Gebilde der Nation ungeachtet der Herkunft, Sprache und anderer Elemente. Die deutsche Nation ist ethnisch strukturiert, man ist ethnisch gesehen ein Deutscher, weil man als Deutscher geboren wurde. Du wirst also als Deutscher geboren und kannst Franzose werden. In Rumänien wurde das deutsche Nationenmodell übernommen. Es ist offensichtlich, dass das Nationenkonzept für viele Rumänen die Volkszugehörigkeit einschließt. Wie kann man sich als Rumäne bezeichnen, wenn man deutschstämmig ist? Wie kann man dem Großteil der rumänischen Bevölkerung erklären, dass ein Deutscher zugleich Rumäne sein kann? Alles ist nach der Logik der Mehrheitsbevölkerung nachzuvollziehen. Aber dieses Nationenkonzept ist langsam überholt. Die allgemeine Tendenz in der zivilisierten Welt ist es, das französische Modell anzunehmen, die Nation politischen Ursprungs: Man ist Rumäne, ungeachtet seiner Herkunft.“
Was bedeutet die Rumänisierung“ Rumäniens? Lucian Boia verglich den Prozess mit dem Geschehen in anderen Ländern und kam zum Schluss, dass die ethnische Homogenisierung Rumäniens keineswegs etwas Einzigartiges in Europa gewesen sei.
Ich bezog mich auf den Rumänisierungsprozess, aber was möchte ich damit sagen? Ich habe es bereits in anderen Büchern erläutert. Wir müssen uns nicht vorstellen, dass das alles nur in Rumänien passiert ist. Ich möchte auch nicht kritisieren, was in Rumänien vorgegangen ist, es aber auch nicht gutheißen. Ich möchte nur einen Prozess feststellen, der auf die eine oder andere Weise, mit einer höheren oder niedrigeren Intensität, mit dem einem oder dem anderen Ergebnis stattgefunden hat. Das ist aber in allen Nationalstaaten passiert. Wir dürfen also keine Heuchler sein und denken, dass ein Nationalstaat seine Minderheiten immer verteidigt. Natürlich kann man einen Anhaltspunkt finden, was die Behandlung der Minderheiten anbelangt. Es ist aber deutlich, dass ein Nationalstaat im Grunde die Minderheiten nicht begünstigt. Das Ziel des Nationalstaates ist es, gerade das Titularvolk zu stärken, die Menschen an eine bestimmte Nationalkultur, einschließlich einer Sprache, zu binden. Und das beste Beispiel ist das besonders demokratische Frankreich. Die Franzosen haben die Minderheiten schlicht und einfach liquidiert. Nicht durch einen Völkermord, nicht durch brutale Mittel, aber es hat eine perfekte Assimilation stattgefunden. Nicht einmal jene Länder, die einen Völkermord begangen haben, schafften es, diese Assimilation so gründlich zu Ende zu führen wie die Franzosen. Bis kurz vor der Französischen Revolution sprach die Mehrheit der Bewohner Frankreichs kein Französisch. Durch einen äußerst zentralistischen Staat, durch die Verwaltung, die Schule und die Armee wurde Frankreich französiert.“
Dem Historiker Lucian Boia zufolge sei die ethnische Homogenisierung der Nationalstaaten in Mittel- und Osteuropa ein komplizierter und oft gewaltvoller Prozess gewesen
In Mittel- und Osteuropa hat sich Vieles ganz anders entwickelt. Die Völkerwanderungen dauerten in diesem Teil Europas längere Zeit, die Großmächte haben sich die Region untereinander aufgeteilt, es war ein ethnisches Durcheinander. Als die Nationalstaaten gegründet wurden, haben sich Mehrheiten gebildet. Es entstanden neue Grenzen. Im Inneren dieser Grenzen lebten auch nationale und religiöse Minderheiten. Es war unmöglich, ideale Grenzen zu ziehen. Das Ergebnis überschritt alles, was in Rumänien erzielt wurde. Wir sind stolz, dass in Rumänien weiterhin Minderheiten leben. Es gibt Länder wie Polen, das in der Zwischenkriegszeit eine zahlreichere Minderheitsbevölkerung im Vergleich zu Rumänien hatte. Es geschah, was wir heute als Massenvernichtung der Juden bezeichnen. Die Polen trugen aber keine Schuld. Danach verloren sie Staatsgebiet im Osten und haben deutsche Territorien im Westen erhalten. Zurzeit hat Polen eine kleinere Minderheitsbevölkerung als Rumänien. In Tschechien passierte fast das Gleiche. In der Zwischenkriegszeit stellten die Deutschen ein Drittel der Bevölkerung dar.“
Wenn man von Minderheiten spricht, sollte man eher von kulturellen und religiösen Milieus sprechen als von einzelnen Mitgliedern einer ethnischen Gruppe, meint der Historiker Lucian Boia. Und es gibt immer wieder multikulturelle Milieus, die einander bereichern.
Es gibt Überschneidungsgebiete, wo die Rumänen zahlreiche Ethnien und Kulturen getroffen haben. Die Geschichte Rumäniens ist sehr reich an multikulturellen Milieus. Die Historiker haben die Minderheiten generell wohlwollend betrachtet. Wenn wir die Minderheiten als Gesamtheit betrachten, dann ist es gar nicht korrekt, sie als Minderheiten zu betrachten. Sie sind Ethnien mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Eigenschaften, die manchmal eine bedeutende Rolle gespielt haben. Ein prominentes Beispiel ist Caragiale [der große Klassiker der rumänischen Literatur], der kein rumänisches Blut hatte. [Caragiale war griechischer Abstammung — Anm. d. Red.] Das bedeutet aber nicht, dass er kein Rumäne war. Und so kommen wir zur Definition des Rumänen, zum Problem der Nation. Was bedeutet eigentlich, Rumäne zu sein? Es geht um kulturelle Zugehörigkeit. Kulturell gesehen ist Caragiale Rumäne, biologisch aber nicht.“
Rumänien ist aus ethnischer Sicht viel homogener als vor 70 Jahren. Nach den Kriegswirren und dem Holocaust hat der Anteil der verschiedenen Volksgruppen an der Gesamtbevölkerung — insbesondere durch die Auswanderung der Deutschen und der Juden — auch zu Zeiten des Kommunismus weiter abgenommen. Damit hat das Land an kultureller Vielfalt eingebüßt. Trotzdem ist man immer noch stolz auf die unterschiedlichen kulturellen, ethnischen und religiösen Traditionen.