Francisc Iosif Rainer und die Anfänge der rumänischen Anthropologie
In Rumänien wurde die Anthropologie unter anderen vom Arzt Francisc Iosif Rainer entwickelt. Er war Universitätsprofessor an den Universitäten im nordrumänischen Iaşi und in der Hauptstadt Bukarest.
Steliu Lambru, 25.06.2013, 11:20
Die holistische Herangehensweise, die den Menschen in seiner Ganzheit erfasst, war das Ziel einiger Generationen von Kulturleuten und Gelehrten, die über die Grenzen des Wissens sowie über die Grenze zwischen der theoretischen Wissenschaft und dem Alltag hinauswachsen wollten. So enstand Ende des 19. Jahrhunderts die Anthropologie, die Wissenschaft, die zur Zeit ihrer Entwicklung Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts vom Ehrgeiz getrieben wurde, viel mehr als die vorgehenden Wissenschaften zu schaffen. Die Anthropologie machte den Phänotypus, d.h. unseren eigenen Körper mit seinem Temperament, Ckarakter, seiner Denkart sowie mit dem entsprechenden sozialen und kulturellen Rahmen, zum Gegenstand ihrer Beobachtung.
In Rumänien wurde die Anthropologie unter anderen vom dem aus der nordrumänischen Provinz Bukowina stammenden Arzt Francisc Iosif Rainer entwickelt. Der im Habsburger Reich geborene Francisc Iosif Rainer ließ sich 1875 als Kind zusammen mit seinen deutschstämmigen Eltern in Bukarest nieder. Er wurde Universitätsprofessor an den Universitäten im nordrumänischen Iaşi und in der Hauptstadt Bukarest. Bis zu seinem Tod im Jahr 1944 galt er als ein eifriger Förderer der Anthropologie als Unterrichtsdisziplin. Rainer versuchte, die Medizin in den kulturalistischen und komparativistischen Raum einzubetten und gilt als der erste, der die Anthropologie als Hochschuldisziplin etablierte.
Ferner setzte er sich zum Ziel, eine Denkschule für Nachwuchsärzte zu gründen, in der die Spezialausbildung das gleiche Gewicht wie die allgemeine Kulturwissenschaft haben sollte. In seinen Anatomie-Vorlesungen verwendete Profesor Rainer beispieslweise Statuen antiker Bildhauer oder berühmte Gemälde der mittelalterlichen Kunst als didaktisches Material, um seine Studenten über die Schönheit des Körpers und seiner Darbietungen aufzuklären. Somit brachte der Professor seine Studenten den Geheimnissen des Berufes näher und machte sie zeitgleich mit der Kunst vertraut.
Historiker Adrian Majuru, Forscher der Biographie des Professors Rainer, erläutert die Kreativität des Arztes:
1937 war Bukarest Gastgeber einer internationalen Konferenz über Anthropologie, Archäologie und vorgeschichtliche Wissenschaften. Aus diesem Anlass gelang es dem Arzt, das erste Anthropologieinstitut Rumäniens zu eröffnen. Er setzte von Anfang an eine interdisziplinäre Forschungsmethode um und Rainer zählte zu den ersten Ärzten weltweit, die in einem Anatomiekurs kulturbezogene Informationen einsetzte. Man soll Biologie von Kultur nicht trennen, um in die Tiefe der wahren Menschennatur gehen zu können. Warum war diese neue Perspektive so wichtig? Francisc Rainer entwicklte eine neue Seite der Anatomie, indem er diese Lehre zum ersten Mal als die Wissenschaft des Menschen in seiner lebhaften Form und in ständiger Bewegung präsentierte. Der Mensch ist ein lebendiges Wesen, das in einem begrenzten Raum lebt. Seine Existenz ist zudem zeitbegrenzt. Der Mensch entwickelt sich ständig von der Geburt, bis zum Tod.“
Zu den wissenschaftlichen Attraktionen der Blütezeit der Anthropologie gehörte die Eugenik, eine Wissenschaft, die ein anderes Ziel als die Anthropologie anstrebte: Die Eugenik bezeichnet die Anwendung wissenschaftlicher Konzepte auf die Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik mit dem Ziel, den Anteil positiv bewerteter Erbanlagen zu vergrößern. Für die Eugenikbewegung als wissenschaftliches Projekt setzten sich Ärzte ein, die infolgedessen auch kulturelle Theorien daraus entwickelten. Diese Theorien gingen schnell über ihre wissenschaftlichen Grenzen hinaus und wurden als nächstes zum Kriterium, die kulturelle Überzeugung von Rassenüberlegenheit zu legitimieren. Die Perspektive der Eugenik verlockte auch Francisc Rainer. Der Arzt schloss sich jedoch den Anhängern dieser Wissenschaft nicht an. Adrian Majuru erläutert warum:
Er befand sich in der Nähe der Eugenik, aber nicht in ihrem Inneren. Eine wichtige Rolle spielten darin die ideologischen Elemente dieser Wissenschaft. In der Regel hielt er sich fern von jeder wissenschaftlichen Methodologie, die sich den rechtsextremen ideologischen Dogmen anschloss. Selbst wenn kein Parteimitglied, war der Arzt als politische Überzeugung linksorientiert. Er gehörte dem engen Kreis des National-Liberalen Constantin Stere an. Die Eugenik war Teil seiner Beschäftigungssphäre mit praktischer oder theoretischer Anwendung.“
Trotz des rationalen Denkens und der politischen Überzeugungen glaubte Rainer sehr stark an der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Er war kein Agnostiker, wie die meisten Ärzte und Sozialisten, er glaubte in einer metaphyschen Dimension des Individuums, die in enger Beziehung mit seinem physischen Ausmaß stehe. Historiker Adrian Majuru kommt erneut zu Wort:
Er hat ein äußerst interessantes Element entwickelt, das man wie folgt zusammenfassen kann: Der Mensch kann durch Erkenntnis und Kultur einen Steg zur Göttlichkeit bauen. Rainer hat immer eine affektive Schüchternheit der Göttlichkeit gegenüber bewahrt. Er sagte, der moderne Mensch berücksichtige den inneren Menschen nicht mehr: er isst, verbraucht und hat Spaß. Er bezog sich auf den modernen Menschen vom Ende der dreißiger Jahre. Dem modernen Menschen sei der innere Mensch durch die Finger gerutscht. Wir alle haben den inneren Menschen bis zum Tod, zuweilen ohne es zu wissen. Später werden wir ihn ohnehin nicht kennen, denn unser Tod befreit ihn von uns. Dieser innere Mensch, eine Art Alter-Ego, kann als einziger den Steg zu Gott bauen, und ihm allein verdanken wir auch die Erkenntnis. Die praktische Seite ist Aufgabe des anderen Menschen. Das bedeutet nicht, dass wir einen Doppelgänger haben, sondern dass wir sowohl eine Seele als auch einen Geist besitzen. Rainer beunruhigte sehr oft die Frage, was aus unserem Geist nach dem Tod wird. Über die Seele wusste er gewiss, dass sie sich nur dann vom Körper befreien kann. Was mit dem Geist passiert, blieb für ihn eine unbeantwortete Frage.“
Die Methode von Francisc Iosif Rainer, dem Individuum einen möglichst breiten kulturellen Horizont anzubieten, enstand aus dem Wunsch, die Fragen seines Lebens zu beantworten. Für den Menschen des 20. Jahrhunderts, der glaubte, er habe die Hindernisse der vorhergehenden Epochen überwunden, spielte die Autorität des Wissenschaftlers eine höchst wichtige Rolle.
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