Emil Cioran (1911–1995): „Schlaflosigkeit ist eine außergewöhnliche Offenbarung“
Als Philosoph der Verzweiflung wurde er bezeichnet, der über Vergeblichkeit, Tragik und Tod schrieb. Im Geschichtsmagazin bringen wir einige Stationen seines Lebens und Werkes in den Vordergrund.
Steliu Lambru, 12.04.2021, 17:30
Mit dem Religionshistoriker Mircea Eliade und dem Dramatiker Eugen Ionescu bildet der Philosoph und Essayist Emil Cioran das Vorzeige-Trio einer rumänischen Generation, die nach 1945 die westliche Kulturwelt beeinflusste. Alle drei wählten das Exil, nachdem sich beginnend mit 1945 das kommunistische Regime in Rumänien etabliert hatte. Alle drei, die Anfang des 20. Jahrhunderts innerhalb von nur zwei Jahren geboren wurden, dürfen Leistungen auf höchstem Niveau in drei Bereichen ihr Eigen nennen: Eliade in der Religionsgeschichte, Ionescu im Theater und Cioran in der Philosophie.
Der jüngste von ihnen, Emil Cioran, wurde vor 110 Jahren, am 8. April 1911, in Rășinari bei Sibiu (Hermannstadt), geboren und starb am 20. Juni 1995 in Paris im Alter von 84 Jahren. Sein Vater war ein orthodoxer Geistlicher und seine Mutter war die Tochter eines zum Baron erhobenen Notars. Er besuchte die Fakultät für Literatur und Philosophie an der Universität Bukarest, wo er mit zwei anderen wichtigen rumänischen Philosophen der Zwischenkriegszeit, Petre Țuțea und Constantin Noica, in Kontakt kam. In den 1930er Jahren fühlte sich Cioran von der philosophischen Bewegung mystischer Hedonisten angezogen, einer rumänischen Version des Existenzialismus. Der junge Cioran studierte eifrig die Werke von Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer, Georg Simmel, Martin Heidegger, Fjodor Dostojewski, Lew Schestow. Von dieser Zeit an vertrat er agnostische Ansichten und litt an Schlaflosigkeit, ein sehr wichtiges biographisches Detail, das sein Werk prägen sollte.
Cioran sah sich selbst eher als Essayist denn als Philosoph und bezeichnete sich selbst als Skeptiker im Dienst einer Welt im Niedergang“. Sein Werk zeigt ihn als einen pessimistischen Denker, der von der Gegenwart des Leidens, des Zerfalls und des Nihilismus beherrscht wird. Schon in seinem ersten Buch Auf den Höhen der Verzweiflung“, das 1934 erschien, als er im Alter von 23 Jahren war, ließ Cioran seinen morbiden Gedanken freien Lauf. Vier weitere Bände sollten in rumänischer Sprache folgen, in denen seine dunklen Reflexionen über die conditio humana, die Natur des Menschen weitergeführt werden.
1937 ging er mit einem Stipendium des Französischen Instituts in Bukarest nach Frankreich, das bis 1944 verlängert wurde, und er kehrte nie mehr nach Rumänien zurück. In Paris, wo er im Quartier Latin lebte, schrieb er neun weitere Bücher, ab nun in französischer Sprache, die ihn in der französischen Kulturszene als echten Skeptiker der untergehenden Welt etablierten. Seine Werke wurden vielfach übersetzt und seine kritische Rezeption war im Allgemeinen positiv. Er gilt als einer der wichtigsten Stilisten der französischen Essayistik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Lieblingsthema seiner Bücher in französischer Sprache wird der Selbstmord bleiben, dem er viel Raum widmen wird. Weitere Themen sind die Erbsünde, der tragische Sinn der Geschichte, das Ende der Zivilisation, die Bedrohung durch das Böse, die Verweigerung des Glaubens. Philosophie war nur noch als Fragment möglich, glaubte Cioran, so dass viele seiner Seiten Aphorismen und kurze Anmerkungen zu bereits festgelegten Themen enthalten.
Im Jahr 1990 drehte der Philosoph Gabriel Liiceanu einen Film über Emil Cioran, einen der ersten Filme über ihn in rumänischer Sprache — hier ließ sich der Philosoph über die Arbeit an sich aus:
Meine Arbeit ist eine Sache der Besessenheit. Ich habe alle Bücher aus medizinischen, therapeutischen Gründen geschrieben. Die gleiche Besessenheit, das Thema der Vergeblichkeit und des Todes. Alle anderen Themen haben keine Bedeutung. Alles, was formuliert wird, wird erträglicher. Sich auszudrücken, wird zum Medikament. Was bringt es schließlich, zu einem Priester zu gehen, um zu beichten, was man getan hat? Es ist eine Befreiung. Alles, was ausformuliert wird, wird in der Intensität herabgesetzt. Das ist therapeutisch, das ist die Bedeutung von therapeutisch. Die depressiven Zustände, die ich in meinem Leben durchgemacht habe, hätten mich in den Wahnsinn treiben können oder, schlimmer noch, zum völligen Versagen. Die Tatsache, dass ich sie formuliert habe, war bemerkenswert effektiv. Wenn ich nicht geschrieben hätte, bin ich überzeugt, dass die Dinge für mich schlecht geendet wären. Und ich habe aufgehört zu schreiben, weil sich etwas in mir verändert hat, eine Verkleinerung“, erzählte Cioran in der Dokumentation von Gabriel Liiceanu.
Es sind extreme persönliche Erfahrungen, die die Existenz in einem definitiven Ausmaß leiten, glaubte Cioran. Die Schlaflosigkeit war dementsprechend die Erfahrung, die ihn tief geprägt hat und ihn dazu brachte, bemerkenswerte Werke zu schreiben. Cioran gestand Liiceanu die Bedeutung des Schlafmangels für die menschliche Existenz:
Vor meiner Schlaflosigkeit war ich ein fast normaler Mensch. Es war eine Offenbarung für mich, als ich meinen Schlaf verlor. Mir wurde klar, dass Schlaf etwas Außergewöhnliches ist und dass das Leben nur durch den Schlaf erträglich ist. Morgens beginnt man ein neues Abenteuer oder das gleiche Abenteuer, aber mit einer Unterbrechung. Schlaflosigkeit ist eine außergewöhnliche Offenbarung, weil sie das Unbewusste unterdrückt. Man verbringt 24 Stunden am Tag im Wachzustand bei vollem Bewusstsein. Und der Mensch ist zu schwach, um das zu ertragen. Es wird zu einem Akt des Heldentums, jeder Tag ist ein Kampf. Als ich an Schlaflosigkeit litt, verachtete ich absolut jeden, jeder war ein Tier für mich. Der Wachzustand ist der Mensch, der an seine Grenzen stößt“, beichtete der Philosoph.
Als junger Mann fühlte sich Cioran zum Faschismus hingezogen. Von dieser Anziehungskraft distanzierte er sich kritisch in den frühen 1940er Jahren. In einem Interview in den 1970er Jahren bezeichnete er sein Festhalten am Faschismus erneut als die größte Torheit seiner Jugend. Ciorans Einfluss war nicht nur in der Hochkultur, sondern auch in der Popkultur zu spüren. 1991 schrieb die französische Sängerin Mylène Farmer den Text zu ihrem Hit Désenchantée“, inspiriert von Ciorans Debütband Auf den Höhen der Verzweiflung“. Und im März 2021 wurde Cioran zur Figur in einem Comic des französischen Künstlers Patrice Reytier.
Audiobeitrag hören: