Deportation der rumänischen Roma (1942): Der Völkermord und die Geschichte von den Pappkartonbooten
Nach diversen Schätzungen sind 25.000-38.000 rumänische Roma ab 1942 zu Zwangsarbeit nach Transnistrien verschleppt worden. Nur etwa 1.500 haben überlebt.
Steliu Lambru, 03.02.2014, 19:59
Am 1. Juni 1942 begann das Regime des Marschalls Ion Antonescu mit der Deportation der Roma aus Rumänien in die Arbeitslager in Transnistrien. Zwischen 25.000 und 38.000 Roma wurden damals über den Dnjestr in Arbeitslager geschickt — am Ende des Zweiten Weltkrieges waren von den Deportierten nur etwa 1.500 Menschen am Leben geblieben. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Arbeitslagern waren äußerst schwer, Krankheiten wie Dysenterie und Typhus waren die Hauptursachen für die hohe Sterbensrate bei den Gefangenen. Trotz der Proteste des Königs Michael. I und der Mutterkönigin Elena hat das Antonescu-Regime überhaupt nichts unternommen, um die Roma aus den Arbeitslagern zu befreien oder ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Die offizielle Begründung war, daß die nomadischen Roma eine Gefahr für die Gesellschaft darstellten.
Die kollektive Tragödie der rumänischen Roma ließ aber auch Mythen entstehen wie zum Beispiel die Geschichte der Pappkarton-Boote. Man erzählte, daß die Roma gezwungen wurden, in Pappkarton-Boote einzusteigen; der Karton sog sich mit Wasser voll, die Boote gingen kaputt, kenterten in der Mitte des Flusses Bug, und alle Bootsinsassen ertranken. Der Soziologe Adrian Nicolae Furtună, der ein Forschungsteam im Bereich Geschichte und Kultur der rumänischen Roma leitet, sagt aber, die Geschichte der Pappkarton-Boote sei ein Mythos:
Diese Episode wird in keinem Archiv, in keinem Dokument erwähnt. Wir haben auch Interviews mit Überlebenden von Deportationen geführt, und niemand wußte etwas über diese Pappkarton-Boote, es gab auch keine Augenzeugen. Wenn man daran denkt, wie die Juden in Transnistrien getötet wurden, klingt diese Geschichte über Roma, die auf Pappkarton-Booten auf den Bug trieben, bis die Boote sich mit Wasser vollsogen und die Menschen ertranken, sogar ein bißchen ironisch. Es gibt viele Fragezeichen in Bezug auf diese Pappkarton-Boote. Infolge unserer Forschungen sind wir zu dem Schluß gekommen, daß dieser Mythos nach dem Kentern des Schiffes ‚Struma‘ entstanden war, das Februar 1942 von einem Torpedo versenkt wurde. Die Roma haben die Struma-Tragödie übernommen und an ihre eigene Kultur angepaßt. Diese soziale Projektion eines vorangegangenen Ereignisses wurde durch mehrere Elemente ermöglicht, vor allem durch den ersten Plan des Marschalls Antonescu, der vorsah, dass die Roma über Wasser deportiert werden sollten. Vor der Deportierung fand eine Zählung der Roma-Bevölkerung statt; die Gendarmen gingen von Haus zu Haus und sagten den Leuten Bescheid, wer deportiert wird. Eine soziale Projektion ist aber eine Kette von einzelnen Elementen, und diese versuchen wir klarzustellen. Es gibt auch Dokumente über die Anzahl der Roma, die mit Lastkarren zu den Donauhäfen transportiert werden sollten. Und die Roma dachten, sie würden wie die Juden vom Schiff ‚Struma‘ ertrinken.“
Die jungen Roma von heute erinnern sich kaum noch an den Völkermord gegen die Roma in Rumänien. Adrian Nicolae Furtună erklärt, wie die Erinnerungskette die Übernahme anderer Tragödien bewirkte und zum Entstehen des Mythos beitrug:
Wir haben versucht, über den Mythos hinaus zu schauen, um zu sehen, welche Elemente noch in dieser Geschichte enthalten sind. Die meisten jungen Roma verfügen über keine konkreten Daten über die Deportation nach Transnistrien. Sie wissen nicht, in welchem Jahr die Deportation begann, sie kennen nicht einmal Schlüsselwörter wie ‚Transnistrien‘ oder ‚Bug‘, aber sie kennen die Geschichte mit den Pappkarton-Booten. Sie assoziieren diese Geschichte mit dem Holocaust im Westen, weil der Holocaust dort viel stärker mediatisiert wurde. Viele junge Roma sagen, dass die nach Transnistrien deportierten Roma vergast wurden, was aber nicht geschehen ist. Wir wollten aber die Art und Weise untersuchen, wie die historischen Ereignisse von einer Generation zur anderen übertragen werden. Bei den Roma geschieht das auf besondere Weise, denn sie erzählen einander viele Geschichten und Mythen. Die Roma aus dem Stamm der Holzschnitzer sagen zum Beispiel, dass die Mitglieder des Königshauses Holzlöffel und Holzzuber benutzen, und deshalb seien die Angehörigen dieser Berufsgruppe nicht deportiert worden. Es gab aber selbstverständlich auch Fälle von deportierten Holzschnitzern unter den Roma, und jene, die nicht deportiert wurden, sagten, sie hätten bessere Löffel oder Zuber geschnitzt als diejenigen, die nach Transnistrien verschleppt wurden. Sie hätten schönere Holzgegenstände hergestellt, die vom königlichen Haus verwendet wurden, und das habe sie vor der Deportation gerettet. Das ist vielmehr ein weiterer Mythos, der über die Kultur der rumänischen Roma Auskunft gibt.“
Der Mythos der Pappkarton-Boote hat aber auch die Funktion, die Erinnerung an den Völkermord an den Roma aufrecht zu erhalten, auch wenn dies auf ungewöhnliche Art geschieht. Der Soziologe Adrian Nicolae Furtună dazu:
Ich führte ein Interview mit einer 90 Jahre alten Frau. Sie selbst war nicht deportiert worden, aber weil sie so alt war, konnte sie mir konkrete Informationen über die damalige Situation der Roma liefern. Während des Interviews kam ihr Enkel zu uns und sagte der Frau, sie möge mal erzählen, wie Marschall Antonescu die Roma in Pappkarton-Booten über den Bug geschickt hatte. Und dabei lachte er. Immer wenn ich die Roma-Gemeinden aufsuche, manchmal mit Kamerateams, zeigen sich die Leute sehr daran interessiert, Auskunft zu geben, sie wissen schon, daß wir Überlebende von Deportationen suchen. Da sagen die Leute lachend zueinander: ‚Du, Costică, erzähl’ ihnen mal, du warst doch auch am Bug!‘ So beziehen sich die Roma auf die Ereignisse, und die historischen Wurzeln der Deportation zeigen, dass es dafür soziale Kriterien gegeben hatte. Deportiert wurden vor allem die Roma, die keine Wohnung und keinen Arbeitsplatz hatten, es handelte sich um eine soziale ‚Säuberungsaktion‘. Und das führte zu Prahl- und Spottgeschichten innerhalb der Roma-Gemeinde: ‚Schau mal, mein Nachbar, der keinen Arbeitsplatz hat, wird deportiert, ich aber nicht!‘ Es gab keine Solidarität zwischen den Menschen, und der Mythos der Pappkarton-Boote hat die Funktion, die Erinnerung wachzuhalten. Die Erinnerung wird aber auf ironische Weise aufrechterhalten, im Unterschied zu ähnlichen Ereignissen in der westlichen Kultur, von denen Menschen in Westeuropa die klare Erkenntnis haben, dass es sich um Tragödien wie Verschleppung handelte. Ein Mensch, der in der westlichen Kultur lebt, würde über ein so tragisches Ereignis wie Deportation niemals ironisch sprechen.“
Auch wenn die Episode der Pappkarton-Boote in Wirklichkeit nicht stattgefunden hat, kann man die Tragödie der Roma, der ärmsten Mitglieder der rumänischen Gesellschaft, nicht ignorieren. Und das Umkrempeln ganzer Gesellschaften, um neue Gesellschaftsordnungen durch die Beseitigung ganzer Völker oder sozialer Schichten herzustellen, war unweigerlich unmenschlich und kriminell.
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