Constantin Dobrogeanu-Gherea (1855–1920): sozialdemokratischer Vordenker und Literat
Am 7. Mai 1920 verstarb in Bukarest der wohl wichtigste linke Vordenker Rumäniens im 19. Jahrhundert: Constantin Dobrogeanu-Gherea.
Steliu Lambru, 10.08.2020, 17:30
Constantin Dobrogeanu-Gherea wurde 1855 in Slawjanka bei Jekaterinoslaw in der heutigen Ukraine als Solomon Katz in einer Familie jüdischer Kaufleute geboren und hatte ein sehr abenteuerliches Leben. Die Familie gehörte zur Mittelschicht der damaligen russischen Gesellschaft — sein Bruder war Arzt, sein Vater Inhaber einer Bierbrauerei. Katz besuchte die Hochschule in Charkiw und fand als Student schnell den Anschluss zu russischen Anarchisten. Er nahm 1874 Teil am sogenannten Gang ins Volk“, einer Großaktion der russischen Narodniki –Volksanarchisten, die als Studenten dem Bauernvolk die Revolution schmackhaft machen wollten.
Verfolgt von der zaristischen Polizei, erreichte er die Stadt Iaşi in Rumänien und gelangte von hier aus in die Schweiz, wo er Verbindung mit den dortigen russischen Revolutionären aufnahm. Wieder zurück in Rumänien schmuggelte er illegale Literatur ins Russische Reich. Doch er lebte sich auch schnell in Rumänien ein, wo er 1890 auch die Staatsbürgerschaft erwarb. Zur damaligen Zeit war jedoch die rumänische Staatsbürgerschaft den christlich-orthodoxen Menschen vorbehalten. Solomon Katz wurde zu Constantin Dobrogeanu-Gherea, entschied sich für eine Karriere als Literaturkritiker und gehörte 1893 zu den Gründern der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rumäniens. Professor Călin Cotoi von der Universität Bukarest weiß mehr über das Leben dieses linken Denkers:
Sein Leben ist sehr interessant — er wird 1877 von der russischen Geheimpolizei entführt und nach Sibirien gebracht, von wo er über Norwegen flüchten kann und nach Rumänien zurückkehrt“ — Amerikaner würden ihn als larger than life beschreiben, meint Cotoi.
Gherea lässt später ab von der gesellschaftlichen Vision der Narodniki und Anarchisten und wird zu einem der wichtigsten Vertreter des orthodoxen Marxismus nach Kautsky. Er übersetzt das Erfurter Programm“, versucht aber, den Marxismus an Rumänien anzupassen, dass damals als Agrarperipherie ganz andere Besonderheiten aufwies, erläutert der Historiker — der mehrsprachige Constantin Dobrogeanu-Gherea wurde in kurzer Zeit zu einem exzellenten Diagnostiker der gesellschaftlichen Missstände im rumänischen Dorf. Sein Buch zur neuen Leibeigenschaft wird zur echten Inspirationsquelle rumänischer Sozialisten.
Gherea ist keine alleinstehende Figur“, sagt Professor Cotoi, es gibt ein breiteres Spektrum, in der es linkes Gedankengut und Sozialismus an diese Peripherie anzupassen gilt, in der Rumänien und Südrussland als Grenzgebiet zwischen Europa und dem russischen Reich lagen.“
Er prägte den Begriff der neuen Leibeigenschaft — in seinem gleichnamigen Buch versucht er den Ideen eines anderen Ex-Narodniki, Constantin Stere, sein eigenes Konzept entgegenzustellen — sozialistische Ideen haben Sinn und Zweck in Rumänien und sind sogar die einzig fortschrittliche Denkweise, die auch in Rumänien existieren könnte. Solche Konzepte sollten dann auch die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rumäniens im Jahr 1893 mitbestimmen — Gherea war einer der Gründungsmitglieder, sagt Călin Cotoi: Die Partei war schon von Anfang an problematisch — die Mitglieder der Arbeiterklasse, insofern sie der Rede wert ist, hatten nicht alle die rumänische Staatsangehörigkeit Es waren viele Juden, Magyaren, Deutsche und siebenbürgische Rumänen darunter — dazu kommen, dass antisemitische Töne in der Arbeiterschaft laut werden und die Partei sie zu beschwichtigen versucht“, beschreibt der Historiker die damalige Lage.
Die Partei brach schließlich unter dem Gewicht der eigenen Paradoxien zusammen und Gherea wollte sich nicht vom Mahlstrom mitreißen lassen, umso mehr er gerade die rumänische Staatsbürgerschaft bekommen hatte. Er taucht also in den rumänischen kulturellen Mainstream ein und wird zu einem der bedeutsamsten Literaturkritiker, nachdem er in Konflikt mit der Koryphäe Titu Maiorescu gerät. Das heißt, dass einer der größten linken Denker nicht als Parteimensch bekannt wird, sondern als Literat. Der Bukarester Historiker Cotoi meint, dass der im November 1917 auch nicht mehr jüngste Gherea das bolschewistische Regime eher ablehnt — er war ein Sozialist, der gegen die gesellschaftlichen Probleme mit demokratischen Waffen kämpfen wollte.
Er war ein Sozialdemokrat à la Kautsky. Nach seiner Theorie versucht er, Politik zu leben. Und nach Kautsky sind die Bolschewiki eher Häretiker. Aber Gherea steht in Kontakt mit ihnen, mit Rakowski zum Beispiel. Ghereas Sohn wirkt dort mit, er selbst behält sich eine gewisse Autonomie vor und bleibt in der Sozialdemokratie deutscher Prägung“, findet der Bukarester Historiker.