Mircea Cărtărescus „Solenoid“ zum besten Roman des Jahres 2015 gekürt
Bei der 3. Auflage der Literaturpreise der Online-Kulturzeitschrift bookaholic.ro haben mehr als 7000 rumänische Leser entschieden: Solenoid“ von Mircea Cărtărescu ist das beste rumänische Buch des Jahres 2015.
Corina Sabău, 09.04.2016, 17:30
Auf der Buchmesse Gaudeaumus im November 2015 stellte der bekannte rumänische Schriftsteller Mircea Cărtărescu sein neues Buch Solenoid“ vor. Blitzschnell wurde der neue Roman Cărtărescus zum Kultbuch — zahlreiche Leser ließen sich davon verzaubern und die Kritiker widmeten ihm lange Kommentare in den Fachpublikationen.
In ihrer Kritik schrieb die Schriftstellerin und Literaturkritikerin Ioana Pârvulescu: Sogar im ausgefallenen Werk Mircea Cărtărescus ist »Solenoid« ein einzigartiges Buch. Es ist ein Porträt des Künstlers als erwachsener Mann, der alles in Frage stellt, beginnend mit der Kunst, mit dem Schreiben. Er versucht mit der ganzen Kraft seines Verstandes, das riesige Rätsel der Welt zu lösen. Das Schöne dabei ist, dass er auf diese Unternehmung besteht, auch nachdem er sich selbst mit der Theorie über die Dimensionen der Welten, die sich ständig vervielfachen, bewiesen hat, dass er sein Ziel nie erreichen wird. In dem Roman kommt aber Hilfe von Morpheus, dem Gott der Träume, und von seinem Vater Hypnos, dem Gott des Schlafs. Der Leser erlebt einen morphinisch-hypnotischen Zustand, als ob in die Mauer unserer begrenzten Welt eine prächtige, wunderbar-wirkliche Tür aufgegangen wäre, die auf Luft gestützt ist.“
Mehr über Solenoid“ von Ioana Pârvulescu:
Der Schlüssel zum Verstehen dieses Buches ist für mich der Traum. Viel stärker als in den anderen Werken Mircea Cărtărescus wird der Traum zur Dichtkunst und zur Ästhetik des Lebens. Der Traum ist sowohl für den Tagebuchschreiber als auch für alle anderen literarischen Ichs des Autors der Schlüssel, der ihm die Tür zu einer anderen Welt öffnet. In dem Roman ist dieser Traumfaden unglaublich schön, er scheint unendlich, manchmal ist er gruselig, furchterregend, und manchmal wird er unglaublich luftig und zart. Der Traumfaden führt den Ich-Erzähler und den Leser in Märchenwelten, in historische Epochen, in die Zeit der Höhlenmenschen oder in geheime Welten anderer Lebensarten. Es gibt in »Solenoid« verblüffende Bilder, die zu diesem Traumfaden gehören. Nur über den Traumweg kann man ein gewisses Jenseits verstehen — und, warum nicht, auch etwas mehr vom Diesseits. Es gibt aber noch mehr — neben der Geschichte mit dem Traumfaden, mit der Traumebene, die zur Dichtkunst, zur »ars poetica« wird, finden wir in diesem Buch von Mircea Cărtărescu mehr denn je die Theorie, dass man alle Antworten in sich selbst findet. Dieses Werk ist eine große philosophische Dichtung und ein gut konstruierter Roman.“
In seinem Roman Solenoid“ schrieb Mircea Cărtărescu:
Ich möchte eine Bestandaufnahme meiner Anomalien erstellen. In meinem obskuren Leben außerhalb der Geschichte, das vielleicht nur in einer Literaturgeschichte festzuhalten wäre, sind Sachen geschehen, die sonst niemals geschehen, weder im Leben, noch in Büchern. Ich hätte darüber Romane schreiben können, aber der Roman verklärt und verhüllt den Sinn der Geschehnisse. Ich könnte alle Erlebnisse für mich behalten, wie ich es bis jetzt tat, und darüber nachdenken, bis mir der Kopf zerbirst, wenn ich jeden Abend unter die Decke krieche und der Regen furios gegen die Fensterscheibe trommelt. Ich will sie aber nicht für mich allein behalten. Ich möchte einen Bericht schreiben, auch wenn ich noch nicht weiß, wie ich das machen werde und was ich dann mit den geschriebenen Blättern tun sollte. Ich weiß auch nicht, ob die Zeit dazu gekommen ist. Ich bin zu keinem Schluss gekommen, zu keinem Zusammenhang, meine Erlebnisse sind unklare Blitzerscheinungen in der banalen Glätte des banalsten Lebens, kleine Felsspalten, kleine Unregelmäßigkeiten. Diese unförmigen Formen, diese Anspielungen und Andeutungen, diese Akzidenzien, die an sich unbedeutend sind, die aber zusammengenommen etwas Fremdes, etwas Obsessives haben, benötigen eine Form, die an sich neu und ungewöhnlich ist, um wiedergegeben zu werden. Es sollte kein Roman und kein Gedicht sein, denn diese Erlebnisse sind keine (oder nicht ganz) Fiktion; es sollte keine objektive Studie sein, weil viele meiner Erlebnisse Singularitäten sind, die nicht einmal in den Labors meines Gehirns zu reproduzieren sind.“
Und noch einige Betrachtungen von Mircea Cărtărescu über Solenoid“:
Mehr als in meinen anderen Schriften kümmerte ich mich in diesem Buch um den Leser — der Leser ist besonders wichtig, er ist zentral für dieses Buch. Der Blick des Lesers war ständig in meinem Kopf, als ich an »Solenoid« schrieb. Wie auch Ioana Pârvulescu bemerkte, ist das ein konstruiertes Buch, es ist kein Buch mit lockeren Erinnerungen, mit vagen Halluzinationen — auch wenn es auch solche enthält. Selbstverständlich ist das ein oneirisches, ein traumgleiches Buch, weil für mich zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Traum und Halluzination, zwischen Traum und Wahnsinn, zwischen Traum und Poesie, zwischen Wirklichkeit und Poesie kein Unterschied besteht. Eigentlich leben wir Tag und Nacht in dieser gesegneten Wirklichkeit. Deshalb ist die Wirklichkeit eines der wichtigsten Themen des Buches, würde ich sagen. Was ist aber die Wirklichkeit, was bedeutet dieser Begriff? Wenn wir normalerweise über Wirklichkeit sprechen, haben wir den Eindruck, es sei etwas sehr Einfaches, aber die Wirklichkeit ist eines der kompliziertesten Konstrukte unseres Gehirns. Die Wirklichkeit existiert in unserem Gehirn.“