Geokritik: Bukarest durch die Augen von Schriftstellern erkundet
Schriftsteller haben einen besonders scharfen Blick für ihre Stadt. Die Literaturkritikerin Andreei Răsuceanu thematisiert in ihrem neuesten Buch das literarische Bukarest – sie untersucht das Stadtbild aus der Sicht von sechs Schriftstellern.
Corina Sabău, 12.08.2017, 17:30
Andreea Răsuceanu leistet sich eigentlich ein Buchexperiment über die unerschöpflichen Wechselwirkungen zwischen der Stadt und ihrer literarischen Projektion. Sie pendelt dabei zwischen dem Blick des Autors und jenem des Lesers, zwischen den verschiedenen Deutungswelten. Als Geokritik bezeichneten Kollegen Răsuceanus diesen in Rumänien neuartigen Ansatz. Worum es ihr dabei ging, erläuterte die Kritikerin selbst: Mich hat die eigentliche Idee der Stadt interessiert — die Stadt als Konstruktion, als faszinierendes Objekt, als ein zweiter Körper, den wir nicht ignorieren können“, sagt Andreea Răsuceanu. Im Vorwort schreibt sie, dass sie bei dieser Literaturgeografie eine Doppelschiene verfolgt hat: Sie wolle einerseits den Lesern, die von zeitgenössischer Literatur begeistert sind, mithilfe der Texte der sechs Autoren einen neuen Blick auf die Stadt vermitteln. Andererseits war ihr Anliegen, Menschen, die an der Stadt und ihrer Geschichte interessiert sind, die sechs Autoren näher zu bringen.
Das Buch thematisiert das Bild der Stadt Bukarest im Werk von sechs zeitgenössischen Autoren aus verschiedenen Generationen: Mircea Cărtărescu, Gabriela Adameşteanu, Stelian Tănase, Simona Sora, Filip Florian und Ioana Pârvulescu. Bukarest wird so zur literarischen Figur. Jedem Kapitel geht eine Diskussion der Kritikerin mit den Autoren voran — darin setzen sie sich mit der Betrachtungsweise auseinander, mit der Art und Weise, in der die Autoren ihr Verhältnis mit der Stadt ausleben: Auch dieses Verhältnis des Autors mit dem beschriebenen Raum schien mir interessant zu sein — es ist der Raum, den er täglich wahrnimmt und durch den er sich bewegt, oder der Raum der Vergangenheit. Bei Gabriela Adameşteanu gibt es so ausführliche Beschreibungen von Bukarest vor 1989, dass sie Studienmaterial für Anthropologen sein könnten“, glaubt Andreea Răsuceanu.
Der Autorin Gabriela Adameşteanu, Jahrgang 1942, gelingen sehr detailreich rekonstruierte Bilder; ihr Werk ist voller Sinnesreize: visuelle, akustische, taktile Anhaltspunkte. Ihre Romanfiguren agieren perfekt im Takt der Stadt, sie reagieren auf die Außenwelt, auf die sie ihr Innenleben projizieren. Und umgekehrt wirkt die Stadt auf ihr inneres Universum ein. Einer der Autoren, in dessen Werk Bukarest eine vordergründige Rolle einnimmt, ist Mircea Cărtărescu. Er prägte in seiner Prosa, zuletzt im Roman Solenoid“ ein unverkennbares Bild der Stadt: Bukarest als Alter Ego, als Körper, als intuitiv wahrgenommener, entdeckter, mit allen Sinnen erforschter Raum: Mircea Cărtărescu nimmt — von mir unbeabsichtigt — den größten Anteil des Buches ein. »Solenoid« erschien zu einem Zeitpunkt, als ich mich für den Schlussstrich meines Buches vorbereitete. Es war völlig unvorhersehbar, ich habe den Roman gelesen und erkannt, dass das Bild von Bukarest darin vervollkommnet wird“, führt die Kritikerin aus.
In den Romanen von Mircea Cărtărescu erscheint die Stadt am spektakulärsten. Sie ist eine Verlängerung des eigenen Körpers, ein anatomisches Gebilde — verliert sie ein Gebäude, entspricht das einer Amputation vitaler Organe. Die Stadt nimmt dann die Rolle des Alter Egos ein: Am Anfang des ersten Teil des Romans Orbitor“, im Deutschen unter dem Titel Die Wissenden“ erschienen, sieht der kleine Mircea im Fenster der Plattenbauwohnung sein eigenes Spiegelbild, das sich über das Bild der Stadt einblendet. Diese Metapher wird zum Leitmotiv des gesamten Romans.
Die Kritikerin Tania Radu meint über das Buch ihrer Kollegin Răsuceanu, dass es Bukarest in die Galerie der großen postmodernen Städte stellt. Bukarest werde auf der Stelle les- und erschließbar. Und liebenswert. Die Stadt erscheint im Menschenbilde, dessen magischer Kern unter überlagerten Schichten erforscht wird. Als Romanfigur per se oder als subjektiv von anderen Figuren erlebt“, schrieb Tania Radu in ihrer Rezension.