Bukarester Buchmesse Bookfest 2017: Politik und Anthropologie im Mittelpunkt
Zwei Titel haben bei der diesjährigen Ausgabe von Bookfest ein besonderes Interesse des Publikums erweckt: ein aus politischen Texten zusammengesetzter Roman von Mircea Cărtărescu und ein Band, der vom Anthropologen Vintilă Mihăilescu herausgegeben wurde.
Christine Leșcu, 09.09.2017, 17:30
Zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Romans Solenoid“ erschien im Verlag Humanitas ein neuer Band des europaweit berühmten Schriftstellers Mircea Cărtărescu: Landschaft nach Hysterie“ ist eine Sammlung journalistischer Texte, die der Autor in den letzten zehn Jahren geschrieben hatte. Der Roman setzt sich, genau wie ein Briefroman, aus journalistischen Texten zusammen, die aus dem politischen Zusammenhang ihrer Zeit gerissen wurden und heute eine allgemeine, staatsbürgerliche und ethische Bedeutung erhalten. Mircea Cărtărescu erläutert:
Ich habe es immer schwer bereut, in den sozialpolitischen Journalismus eingestiegen zu sein. Ich habe es damals gemacht, um etwas zu verdienen, denn ich hatte gerade geheiratet und wollte meine Familie unterstützen. In diesen Beruf bin ich dennoch auch aus einem gewissen Komplex eingestiegen: Viele meiner Kollegen waren am Ende der neunziger Jahre schon in diesem Bereich tätig und hatten somit die Möglichkeit, ihre Meinungen frei zu äußern und Widerstand dem System und der Regierung gegenüber zu leisten, während ich ganz alleine in meinem Elfenbeinturm saß. Das hat man mir mehrmals offen vorgeworfen, dass ich gegenüber aktuellen Themen, die alle beschäftigten und beschäftigen mussten, kalt und unbeeindruckt blieb. Aus diesem Grund bin ich in diesen Beruf eingestiegen. Schritt für Schritt weckte das soziale und politische Leben des Landes meine Neugier, denn von Natur aus bin ich sehr neugierig und zeige ein großes Interesse für zahlreiche Sachen, so zum Beispiel hat mich die vermisste Malaysia-Airlines-Maschine ein Jahr lang beschäftigt. Ich fühlte mich plötzlich vom Gefühl erfasst, unbedingt wissen zu wollen, was geschehen war, spürte das Bedürfnis, die Situation aufklären zu wollen. Dasselbe galt auch für meine Tätigkeit im politischen Journalismus, auf einmal spürte ich ein dringendes Bedürfnis, das ich vorher nie gekannt hatte, denn während des Kommunismus und gleich danach hatte ich eine 100% apolitische Haltung. Danach wollte ich hingegen wissen, was im politischen Leben des Landes passiert.“
Ein echter Schriftsteller nimmt das Leiden der Menschen auf sich und versucht, es alchemistisch in Schönheit umzuwandeln. Es handelt sich nicht um nutzlose und vergängliche Schönheit, sondern um die Schönheit, die laut Dostoievski »die Welt retten wird«. Der Schriftsteller kann, wie jeder Intellektueller, eine wichtige politische, moralische und soziale Rolle im Leben seiner Gemeinde spielen, er kann und soll ein Fürsprecher des Guten und der Wahrheit sein, gegen die Dämonen kämpfen, die das menschliche Wesen heimsuchen. Als Künstler muss er daraus Schönheit erschaffen. Wenn ein Schriftsteller dabei scheitert, qualitativ hochwertige Werke zu schaffen, kann auch seine Zivilcourage seine Leser nicht mehr erreichen und ihnen nah am Herzen liegen“, schreibt Mircea Cărtărescu in seinem neuesten Band.
Warum ist Rumänien anders?“ — das ist die Frage, die der Historiker Lucian Boia im Jahr 2013 aufwarf. Sein umstrittener Essay löste unter den rumänischen Intellektuellen heftige Debatten aus. Davon ließ sich Vintilă Mihăilescu inspirieren. Im Band, der dieses Jahr im Verlag Polirom erschienen ist, gibt er dem Historiker eine Antwort, die über die Polemik hinausreicht.
Oft bleiben Anthropologen, Soziologen, politische Kommentatoren, Historiker und Forscher vor der Besonderheit zurückhaltend, die das rumänische Volk auszeichnet. Im Band, der von Vintilă Mihăilescu herausgegeben wurde, beantworten sie aus Initiative des bekannten Anthropologen die Frage: Warum ist Rumänien anders?“ Vintilă Mihăilescu kommt zu Wort mit Einzelheiten:
Dieser Band ist aus Unzufriedenheit entstanden. Ich irre mich nicht, wenn ich sage, dass dasselbe für alle Autoren gilt, die ihren Beitrag dazu gebracht haben. Es handelt sich um eine intellektuelle und bürgerliche Unzufriedenheit. Also eine Art ziviler Verantwortung, die jeder Intellektuelle gegenüber der Sichtweise haben soll, die eine Sonderstellung unseres Volkes in einer nihilistischen Überzeugung befürwortet: »Wir können sowieso nichts tun oder ändern, weil wir im Vergleich zu den anderen anders sind.« Also, wenn wir beispielsweise mit einem Taxifahrer ins Gespräch geraten, wird er immer sagen, egal worum es geht: »So sind halt die Rumänen.« Dieses Urteil ist mit der Zeit zum permanenten geistlichen Klima geworden und prägt sehr stark unsere politischen und kulturellen Überzeugungen und Handlungen. Das ist meiner Ansicht nach allgemeinschädigend. So ein Diskurs, der eine maßgebliche negative Besonderheit des rumänischen Volkes aggressiv betont, gewinnt heutzutage immer mehr an Bedeutung in der Öffentlichkeit. Ich finde es nicht in Ordnung, wenn Universitätsprofessoren diese urbane Legende befürworten.“
Deutsch von Ana Nedelea