„Totaler Horizont“ – ein Gespräch mit dem Mathematiker Solomon Marcus
Mathematik und Poesie – da sieht man gleich die enge Verbindung. Oder nicht? Der 90-jährige Wissenschaftler Solomon Marcus erklärt uns, welche Beziehungen es zwischen den verschiedenen Fächern gibt und dass diese sich eigentlich alle überlappen.
Corina Cristea, 17.07.2015, 17:29
Ich war immer der Meinung, dass eine meiner großen Chancen im Leben die Wahl dieses Berufes war: Forschungsprofessor in Mathematik und all ihren Erweiterungen, die für mich überall hin reichen.“ Dieses ist das Bekenntnis des Akademiemitglieds Solomon Marcus anlässlich seines 90. Geburtstags in einem Interview mit Radio Rumänien International über Mathematik, Poesie und Offenbarung — Bestandteile eines Lebens, das der Forschung gewidmet wurde. Ein Leben unter dem Zeichen der Frage, die er sich in seiner Kindheit gestellt hat: Was ist, wenn du weiter und weiter blickst?“ Die Welt ist das, was wir es schaffen, darin zu sehen. Wenn unsere Vorstellungskraft stark genug ist, wird die Welt, in der wir leben, genauso reich sein.“
Als Autor zahlreicher fachübergreifender Studien über den Einsatz von Mathematik in der Linguistik, in der Theateranalyse, in der Poesie, der Natur- und Sozialkunde, in den visuellen Künsten wurde das Akademiemitglied Solomon Marcus einschließlich für seine Literaturkritik mit verschiedenen Auszeichnungen geehrt. Seine Bücher wurden in unzählige Sprachen übersetzt, er veröffentliche über 50 Bände und hunderte Artikel in wissenschaftlichen Fachzeitschriften im In- und Ausland.
Für Solomon Marcus fand das Treffen mit der Dichtung um das Alter von 15 Jahren statt. Damals hatte er Sara pe deal“ (Abends am Hügel“) des rumänischen Nationaldichters Mihai Eminescu gelesen, das er als ein Gedicht von einem außerordentlichen Erglühen beschreibt. Ich habe gefühlt, wie ich in diesen zauberhaften Zustand eintauche. Diesen habe ich dann bei Rilke, Edgar Allan Poe, Baudelaire wiedergefunden. In die Mathematik stieg er viel später ein, weil die Schulmathematik nicht ideen- und visionsgerichtet, sondern von mechanischen Prozessen beschlagnahmt war. Sie diente zwar zur Bildung des Ordnungsgefühls, es war aber nichts Tiefgründiges“ — sagt der heutige Akademiker.
Du hast einen Apfel. Du isst heute eine Hälfte davon, morgen noch eine Hälfte von dem was übrig geblieben ist, übermorgen wieder eine Hälfte vom Tag zuvor. Und dann, wann hört diese Apfelesserei auf? Wir kennen das aus der Praxis: Einen Apfel isst man recht schnell auf. Aber gemäß diesen Berechnungen wird der Apfel niemals ganz aufgegessen. All diese Fragen überfielen mich, aber ich konnte nicht erkennen, was es mit ihnen auf sich hat, denn Schulmathematik hat mich niemals angezogen.“ So erklärt Solomon Marcus seine Annäherung an seinen Exzellenzbereich — Mathematik, aber auch die Offenheit anderen Fächern gegenüber.
Die ersten Vorbilder von Informatikprogrammiersprachen gab es in der Biologie — der Kreislauf und dann die Vererbung. Eigentlich war es ein intellektuelles Unternehmen, bei dem eine Vielfalt von Akteuren angestellt war — Linguistik, Mathematik, Logik, Biologie, Psychologie und es kam immer etwas dazu. So bin ich auf Semiotik gestoßen. Ich bin zum Entschluss gekommen, dass man das Wissen auf natürliche Weise nicht auf ein Fach begrenzen kann. Mann muss einen totalen Horizont vor sich haben.“
Mit der Literatur kann man sich auch ohne eine andere bürokratische Legitimierung, ein Diplom z.B., befassen. Doch in der Mathematik ist es schwieriger. Es ist ein Fach, für das man sich einem systematischen Lernprozess unterziehen muss, fügt Solomon Marcus hinzu. Und die Logik, Biologie, Psychologie und Poesie kommen ergänzend hinzu. Solomon Marcus:
Die Herrlichkeit des Schauspiels des menschlichen Wissens kommt in erster Linie aus der Art und Weise, wie sich die Einheit der Welt unterschiedlich ausdrückt. Es handelt sich um eine gewisse Einheit, eine gewisse tiefe Einfachheit. Solange wir eine teilweise Darstellung beibehalten, eine Darstellung, die die Welt in Scheiben teilt, und jede Welt hat ihre eigene Einstellung, dann werden wir von einer fehlenden integrativen Beobachtung frustriert sein. Wir müssen sehen, wie die Welt aussieht, wenn Landschaften aus den unterschiedlichsten Richtungen gleichzeitig auf uns zukommen. Z.B. stellen wir fest, dass die Isomerie in der Chemie letztendlich ein Phänomen ist, das der menschlichen Vererbung ähnelt, mit der Art, wie Töne in der Sprache verwendet werden. All diese stehen unter dem Zeichen des Primats der Struktur vor der Substanz. Dies führte zur Entstehung des Strukturalismus aus dieser profunden Ähnlichkeit zwischen scheinbar sehr unterschiedlichen Gestalten. Gerade das ist das Schöne beim Wissen und das ist auch die Genugtuung der Tatsache, dass man die Welt begreift.“
Ein Begreifen, für das das Internet ein sehr nützliches Werkzeug darstellt, meint Solomon Marcus:
Wir leben noch in einer Übergangszeit — das Internet ist noch jung –, einer Übergangszeit, in der wir genügend beachtenswerte Schriftsteller haben, die noch nicht einmal das ABC des Internets kennen. Wir haben auch sehr viele junge Internetenthusiasten, die eine Einladung in die traditionelle Bibliothek mit Grauen entgegennehmen.“
Auch wenn das Internet irgendwann mal die Quasi-Gesamtheit der gedruckten Kultur übernehmen werde, so Solomon Marcus, brauchen wir noch eine wesentlich kombinierte Erziehung. Wir befinden uns an einem historisch besonders wichtigen Kreuzweg, sagt der rumänische Wissenschaftler.