Referendum in der Türkei offenbart ein gespaltenes Land
Die Volksabstimmung über die Verfassungsänderung in der Türkei und in der türkischen Diaspora haben gezeigt, wie groß der Riss ist, der durch die türkische Gesellschaft geht.
Corina Cristea, 21.04.2017, 17:31
Die Idee einer Volksabstimmung für die Verfassungsreform in der Türkei und die Erweiterung der Befugnisse des Präsidenten erschien in der Türkei nach dem gescheiterten Staatsstreich. Sie kam als Ergänzung zu der Säuberungspolitik, die von Präsident Recep Erdoğan gegen seine Gegner eingeführt wurde. Darunter Militärs, Richter und Journalisten. Trotz der Warnungen Brüssels, dass eine Volksbefragung über die Erweiterung der Macht des Staatschefs nicht der Entspannung der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei helfen werde, wurde am 16. April das Referendum abgehalten.
Laut den Ergebnissen, die von der Opposition beanstandet werden, seien Erdoğan und seine Unterstützer erfolgreich gewesen. Abgestimmt wurde über 18 Zusatzartikel, die in erster Reihe die Befugnisse der Regierung und des Parlaments betreffen. Einer der Artikel sieht die Abschaffung des Ministerpräsidenten-Amtes vor. Der Staatschef soll zukünftig die Minister ernennen und das Parlament werde kein Recht mehr haben, Misstrauensanträge einzureichen. Zudem kann der Präsident weiterhin Mitglied einer politischen Partei bleiben und wird vier der 13 Richter beim Obersten Gericht ernennen. Man kann folglich von der wichtigsten politischen Änderung seit der Erklärung der türkischen Republik 1923 sprechen.
Andrei Ţărnea, Direktor des Aspen Institute Rumänien sprach bei Radio Rumänien über die Volksabstimmung in der Türkei. Er meinte, die jetzige türkische Verfassung sei in den 1980er Jahren infolge eines Militärputsches in Kraft getreten. Deshalb habe ein Teil der Gesellschaft dieses Dokument als illegitim angesehen. Andrei Ţărnea dazu:
Der Teil der Bevölkerung, der dieses Dokument nie als demokratisch für die türkische Gesellschaft betrachtet hat, ist nicht nur die traditionelle konservativ-islamistische Gesellschaft, sondern auch ein Teil der Linksradikalen, die einen wichtigen Teil der Wählerschaft in den Großstädten darstellen. Die demographische und kulturelle Struktur der türkischen Gesellschaft hat sich geändert. Die Stimme des anatolischen Teils, der etwas ruraler, etwas konservativer und bestimmt islamistischer und religiöser ist, hat immer mehr an Einfluss in der türkischen Gesellschaft gewonnen.“
Das hat man auch dem wirtschaftlichen Erfolg der Türkei unter Erdoğan zu verdanken. Wie wird aber der andere Teil der Türkei die neuen Änderungen betrachten und was wird jetzt mit den beiden Hälften der türkischen Gesellschaft passieren? Andrei Ţărnea ist der Ansicht, ein Teil der schon existierenden Spannungen werden nicht verschwinden:
Der städtischen und gebildeten Elite ist das, was wir normalerweise als Korruption bezeichnen würden, nicht ganz fremd. Sie hat jetzt keine Legitimität mehr. Diese Elite hatte die ganze wirtschaftliche Macht ergriffen — wir sprechen hier von wichtigen Familien, die senkrecht integriert sind, mit Beziehungen im Militär und in der Verwaltung, in der Politik und in der Justiz. Gegen diese Elite leistete ein Teil der Linksgerichteten und ein Teil der Traditionalisten Widerstand. Die klassische Teilung überlappt sich jetzt mit einer neuen Teilung zwischen der progressistischen, modernen Türkei und der konservativen, islamistischen Türkei. Diese Trennung deckt unterschiedliche Optionen in der Außenpolitik, in der Rolle der Politik im Staat und in der Rolle der Institutionen und in der kulturellen Zukunft der Türkei ab. Die Lage ist noch komplizierter, der regionale Kontext schwierig, Europa steckt in der Krise und die sehr große türkische Diaspora spielt auch eine Rolle. Diese Trennung konnte man auch in Europa bemerken — die türkische Diaspora in den skandinavischen und den südlichen Ländern Europas haben überwiegend gegen die Verfassungsreform abgestimmt, während die türkischen Gemeinden in Deutschland, Holland und teilweise Österreich die Reform unterstützt haben.“
Politanalysten betrachten die Volksbefragung eher als ein Vertrauensvotum für Erdoğan und für das Land, das er sich wünscht. Ein Land, über dem die Bevölkerung ihm die völlige Kontrolle gegeben hat. Viele befürchten jetzt, dass der türkische Staatschef neue Verfassungsreformen einleiten und die Todesstrafe wieder einführen könnte.