Globale Sicherheit und Völkerrecht im 21. Jh.: Gespräch mit dem Politologen Iulian Chifu
In unserem Feature gehen wir der Frage nach, mit welchen Herausforderungen sich derzeit das Völkerrecht auseinandersetzt und wie ein Sicherheitskonzept im 21. Jh. aussehen könnte. Dabei kommt auch der Politikwissenschaftler Iulian Chifu zu Wort.
Corina Cristea, 07.04.2023, 16:30
Nach mehr als einem Jahr, seitdem Moskau die so genannte militärische Spezialoperation losgetreten hat, sagt der Kremlchef, dass es bei der Militäraktion in der Ukraine um die Existenz Russlands als Staat ginge. In einer Rede vor Arbeitern in einer Fabrik, in der Hubschrauber für das russische Militär hergestellt werden, wiederholte Wladimir Putin seine These, dass das Ziel des Westens darin bestehe, Russland zu zerschlagen. Für uns ist dies keine geopolitische Aufgabe, sondern eine Überlebensfrage, bei der es darum geht, die Voraussetzungen für die künftige Entwicklung unseres Landes und die Zukunft unserer Kinder zu schaffen“, so der Kremlchef, der den Westen beschuldigte, die Ukraine als Instrument für einen Krieg gegen Russland zu benutzen. In Bezug auf die Ukraine betonte Putin, dass Moskau jahrzehntelang versucht habe, gute Beziehungen zu dem Land aufrechtzuerhalten, doch mit dem vom Westen angezettelten Staatsstreich“ im Jahr 2014 habe sich alles geändert“.
Es sei nicht das erste und wahrscheinlich auch nicht das letzte Mal, dass die Rhetorik eines russischen Staatschefs aus einer parallelen Realität zu stammen scheint, wobei sich Wladimir Putin in eine anklagende Position begibt und Russland als Opfer des Westens hochstilisiert. Die Besonderheit des 21. Jahrhunderts besteht darin, dass die Welt sich von einer bipolaren Stabilität in eine Instabilität mit vielen Unbekannten begeben hat, sagt der rumänische Sicherheitsexperte und Politikwissenschaftler Iulian Chifu im Gespräch mit Radio Rumänien. Professor Chifu, der mit der ehemaligen Sowjetunion bestens vertraut ist und als Russland-Experte gilt ist, hat in seiner vierbändigen Studie Die Neugestaltung der Sicherheit und das Völkerrecht im 21. Jh.“ die Entwicklungen, Trends und die aktuellen Verwerfungen in der Weltpolitik analysiert.
Gorbatschow konnte eines nicht vorhersehen und er wusste auch nicht, wie er sich darauf einstellen sollte – die Tatsache, dass nach der Entlassung der verschiedenen Nationen aus dem berüchtigten »Gefängnis der Völker«, wie die Sowjetunion genannt wurde, diese versuchen würden, ihre Identität wieder zu finden und ihren eigenen, unabhängigen Weg zu gehen. Daher war der Zusammenbruch der Sowjetunion ein natürlicher Prozess. Es war ein Versuch des kommunistischen Regimes, zu überleben, und er endete nur mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Staates, wie wir ihn kannten, denn es war ein künstlicher Staat, der aus Teilen zusammengesetzt war und nur durch Gewalt und Repression sowie die erdrückende Macht einer totalitären Ideologie zusammengehalten werden konnte. Das Gleiche geschieht heute oder wird sich in naher Zukunft vor unseren Augen [in Russland] abspielen. Es ist eine allgegenwärtige Frage: Wie geht es weiter mit Putin, wie würde eine Post-Putin-Ära aussehen, würden Putin und der Putinismus eine Niederlage in der Ukraine überleben? Und hier ist die Literatur sehr reichhaltig, in meinem Buch versuche ich, durch das Prisma meiner eigenen Einschätzungen eine Antwort darauf zu finden. Sicher, Putin wird nicht überleben können, aber das wirft gleich eine andere Frage auf: Es gibt geheimdienstliche Erkenntnisse, die darauf hindeuten, dass man im Kreml bereits nach einem Nachfolger für Putin sucht. Natürlich wird Putin nicht aufgrund von Unruhen, nicht aufgrund von öffentlichem Druck beseitigt werden, sondern sein eigenes Umfeld wird sich seiner Person entledigen. Der Putinismus als Ideologie wird allerdings zu überleben versuchen, indem Putin durch einen Nachfolger aus dem inneren Kreis ersetzt wird, so wie es zum Beispiel bei Leonid Chruschtschow der Fall war.“
Professor Chifu verwies auch auf die Situation des russischen Militärs — junge, ahnungslose Männer, die mit veralteten Waffensystemen an die ukrainische Front geschickt werden, um als Kanonenfutter verheizt zu werden. Gleichzeitig, so der Politikwissenschaftler, habe Putin ein Jahr nach Beginn der so genannten Sonderoperation noch kein Narrativ gefunden, mit dem er seine eigene Öffentlichkeit, geschweige denn die internationale Gemeinschaft, von der Notwendigkeit dieses Kriegs überzeugen könne. In der komplizierten geopolitischen Lage weltweit sollten andererseits auch die Rolle und die Ziele Chinas nicht unterschätzt werden, führt Iulian Chifu weiter aus:
Putins Problem ist, dass sich die Welt dramatisch verändert hat, dass die Macht im absoluten Sinne verschwunden ist, dass wir heute anstelle von zwei Supermächten zwei Großmächte und viele Regionalmächte haben und dass keine der beiden Großmächte Russland ist, sondern die USA und China diese Position einnehmen. Wenn man den Ehrgeiz Putins und des russischen Volkes hat, das schon immer mit diesem Exzeptionalismus und der absoluten Überlegenheit und der Idee der Aufteilung der Welt in Einflusssphären gefüttert wurde, dann ist das aus diesem Gesichtspunkt sicherlich ein Problem. Xi Jinping hat ein anderes Gewicht — China ist eine aufstrebende Großmacht, das Land hat Ambitionen globaler Natur, es will die Welt unterwerfen. Putin ist für Xi Jinping ein Anhängsel, ein Juniorpartner, und außerdem pfuscht er ihm ins Handwerk, er stört seine Geschäfte. Als China den sogenannten 12-Punkte-Plan für die Lösung des Ukraine-Konflikts vorlegte, enthielt er eigentlich nur zwei klare Botschaften: keine Atomwaffen einsetzen und den Krieg so schnell wie möglich beenden.“
China sei an einer schnellen Beendigung des Kriegs interessiert, weil dieser Krieg indirekt auch China etwas kostet, sagt Iulian Chifu. Und die Strategie der beiden autoritären Führer falle dementsprechend aus: Putin müsse viel Lärm machen, um an den Tisch eingeladen zu werden, an dem über globale Fragen diskutiert wird; Xi Jinping wiederum stützte seine Stärke und seine Macht auf die Wirtschaft. Doch brauche er auch Stabilität und Ruhe, um unter dem Radar zu operieren und seine Macht zu vergrößern. Wenn Putin für Turbulenzen sorge, habe auch China ein Problem, so der Politikwissenschaftler Iulian Chifu im Gespräch mit Radio Rumänien.