Europawahlen – alles beim Alten geblieben?
Rund 370 Millionen wahlberechtigte Europäer gingen vom 6. bis 9. Juni an die Urnen, um 720 Mitglieder des Europäischen Parlaments zu wählen, aber nur etwas mehr als die Hälfte machte von ihrem Recht Gebrauch. Die Ergebnisse zeigen, dass die Parteien der Mitte weiterhin eine klare Mehrheit haben. Zu diesem Schluss kommt die Auswertung der Europawahlen - Politologen versuchen. das Ergebnis näher zu erklären.
Corina Cristea, 21.06.2024, 14:24
Die EVP bleibt die größte Fraktion, sogar mit einem deutlichen Zuwachs; die Allianz der Sozialisten und Demokraten landete auf den zweiten Platz, verlor aber einige Sitze, und die Fraktion der liberalen Renew blieb auf dem dritten Platz, musste aber Einbußen hinnehmen. Die beiden Fraktionen der extremen politischen Rechten, die Europäischen Konservativen und Reformisten und die Fraktion Identität und Demokratie, gewannen zusammen 14 Sitze mehr als zuvor, aber selbst das ist zu wenig, um in der politischen Küche des Parlaments wirklich zur Geltung zu kommen, glauben Politologen.
Die beiden Fraktionen nehmen den vierten und fünften Sitz in der Legislative ein und haben weniger erreicht als vor der Wahl erwartet. Die Grünen fielen vom vierten auf den sechsten Platz zurück, und die Linksfraktion liegt auf dem siebten Platz und hat weniger Sitze als in der Vergangenheit.
Betrachtet man das Kräfteverhältnis, scheint das Europäische Parlament also weitgehend unverändert zu sein. Was jedoch im politischen Establishment für Unbehagen gesorgt und heftige Reaktionen hervorgerufen hat, war der starke Aufschwung der extremen Rechten in Ländern wie Frankreich und Deutschland, wo Analysten zufolge die Unzufriedenheit mit dem Umgang mit der Pandemie und geopolitische Spannungen zu dem Ergebnis beigetragen haben.
Welche Botschaft senden die Wähler an die Europäische Kommission? Wird hier etwa die Politik abgestraft? Sorin Ioniță, Präsident der politikwissenschaftlichen NGO Expert Forum:
„In den letzten Jahrzehnten hat die Globalisierung in den westlichen Gesellschaften sehr viel verändert: eine Menge Einwanderung, viel Gerede über den Klimawandel und eine Technologiewende. Die Menschen haben Stress, sie wollen eine Atempause von diesem sehr, sehr schnellen Tempo der Veränderung. Sie wollen ein bisschen Zeit, um all das zu verdauen und zu verarbeiten, und sie stimmen im Grunde für populistische Kräfte der einen oder anderen Art, die ihnen sagen, dass alles so bleiben soll, wie es war und dass sie den Wandel aufhalten – was natürlich nicht passieren wird. Es gab keine großen Überraschungen, die Umfragen nicht vorausgesagt hätten und diese Rechtsextremisten sind in zwei große Lager gespalten – einige sind sozusagen pro-Kreml, andere pro-westlich und pro-atlantisch. Und hier ist der sehr große Unterschied, zum Beispiel zwischen einerseits Giorgia Meloni in Italien und den Polen, die niemals mit Russland spielen werden, und andererseits der AfD, die beunruhigend viel Profil haben, und vielleicht sogar der Partei von Marine Le Pen in Frankreich, wobei auch sie sich gemäßigt hat.“
Der Außenpolitikexperte und Professor Stefan Popescu glaubt, dass der Aufstieg der europäischen extremen Rechten weitergehen wird:
„Wir befinden uns in einer Zeit der Krisen, die aufeinanderfolgen und nicht überwunden wurden. Die Wirtschaftskrise nach der COVID-19-Pandemie, die durch den Krieg in der Ukraine verursachte Wirtschaftskrise, der Wettbewerb mit China und den USA, der zu einer Erosion der europäischen Wirtschaft führt, der Migrationsdruck, die Sicherheitsfragen, der Nachhall des Krieges im Nahen Osten, all das schafft nur eine Atmosphäre der Unsicherheit, die einen fruchtbaren Boden für diese Bewegungen bietet.“
Auf Einladung von Radio Rumänien sprach der Politikwissenschaftler Andrei Țăranu über den Kontext der Wahlen, über die wichtigsten Themen, die die europäischen Bürger beschäftigen:
„Westeuropa ist sehr interessiert am Krieg in der Ukraine und stellt sich Fragen zum Frieden und allem rund um eins neue Rüstungspolitik der Union und die Möglichkeit, eine europäische Armee aufzubauen, während in Osteuropa die wirtschaftlichen Probleme am schwerwiegendsten sind. Die Mehrheit der Osteuropäer ist besorgt über eine mögliche Krise in der EU, von den baltischen Ländern bis Griechenland. Das Problem für die Menschen im Süden des Kontinents – Griechenland, Italien, Spanien, außer Portugal – ist nach wie vor die Migration aus Nordafrika und dem Nahen Osten, während die Probleme für die Menschen in den skandinavischen Ländern eher mit dem Klimawandel zusammenhängen. Der Westen stellt sich Fragen zum europäischen Wiederaufbau und zu einer Überarbeitung der Verträge, so dass die Union, die europäische Bürokratie stärker in die Existenz und das Leben der europäischen Bürger einbezogen wird, während die Menschen im Osten eher, sagen wir mal, misstrauisch gegenüber einem stärkeren politischen Engagement der EU sind, auch in Fragen der Justiz, der Menschenrechte und so weiter.“
Empfehlungen zur weiteren Vorgehensweise der neuen Kommission hat Professor Ștefan Popescu:
„Die Prioritäten werden sehr wichtig sein und, ich würde sagen, so wichtig wie nie zuvor für den Weg der EU. Zunächst einmal wird diese Kommission weiterhin den Krieg in der Ukraine managen müssen, also wie die Union die Ukraine weiterhin unterstützen wird, vor allem, wenn es am 5. November einen Wechsel im Weißen Hauses geben wird, der am 21. Januar vollzogen wird. Dann die Bewältigung der Nachkriegszeit, denn dieser Krieg wird nicht noch einmal fünf Jahre dauern, selbst wenn er nächstes Jahr noch andauert“.
Die Erweiterung sei ein weiteres wichtiges Anliegen, fügt Ștefan Popescu hinzu, denn sie wird eine grundlegende Reform des Entscheidungsprozesses auf europäischer Ebene erfordern.