Demographisches Gefälle: Europas Bevölkerung wird immer älter
In der Geschichte Europas gab es noch nie so viele Menschen gab, die ein so langes Leben genießen. Doch das bringt mittel- und langfristig auch Probleme mit sich.
Corina Cristea, 19.02.2021, 17:30
Im jüngsten Demographie-Bericht der Europäischen Kommission vom Juni 2020 heißt es, dass die Lebenserwartung in der EU für Männer und Frauen heute 10 Jahre höher als vor 50 Jahren liegt. Heute ist einer von 5 EU-Bürgern über 65 Jahre alt und bis 2070 soll es fast einer von drei sein. Bei Radio Rumänien spricht Vladimir Alexandrescu vom Nationalen Statistikinstitut (INS) über die Faktoren, die zu dieser Lage in der EU beitragen:
Egal wie kritisch wir sind — die Ernährung ist in europäischen Ländern einfach besser. Genauso steht es um die Gesundheitsversorgung, die Pandemie als ganz außerordentliche Situation jetzt mal außen vor gelassen. Das Leben ist überall besser geworden und die Lebenserwartung steigt deshalb konstant. Wir sind jetzt in der EU bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren und wir in Rumänien kommen diesem Niveau immer näher. Natürlich ist damit ein Problem verbunden — schließlich brauchen ältere Menschen mehr medizinische Fürsorge als die jungen Menschen. Daher werden die Sozialkosten in den nächsten Jahren in allen Ländern zunehmen.“
Senioren in der EU leben in der Regel gesünder, ihre Leiden werden früher und genauer erkannt und behandelt. Sie können deshalb freier über ihren Lebensabend entscheiden — und viele arbeiten länger oder nehmen mehr an der Gesellschaft teil. Aber das ist eben nur die Regel — es ist die Herausforderung und Verantwortung der Sozialfürsorgesysteme, sich um die Ausnahmen zu kümmern. Wie der Demographieforscher Vladimir Alexandrescu erklärt, sollte man den Wald vor lauter Bäumen nicht übersehen:
Vor einigen Jahren haben Demographen neben der Lebenserwartung bei der Geburt einen zweiten Indikator ins Spiel gebracht: die gesunde Lebenserwartung. Denn es ist wichtig, dass der Mensch nicht zu einer Bürde für die Gesellschaft wird, für seine Mitmenschen, und dass er im Gegenteil durch ein aktives und gesundes Leben eine Stütze für seine Familie ist. Und hier gibt es gegensätzliche Dinge zu bemerken.“
Frauen, meint Vladimir Alexandrescu, haben eine höhere Lebenserwartung bei der Geburt als Männer. Im Falle Rumänien sind es z.B. 79 Jahre für Frauen und 72 für Männer, also ein Unterschied von sieben Jahren. In der EU sind es 83 zu 78 Jahren zugunsten der Frauen. Schauen wir uns aber die gesunde Lebenserwartung an, ist es umgekehrt: Frauen schneiden schlechter ab als Männer, stellt der Statistiker fest. Und in puncto Lebenswartung nach dem 60. Lebensjahr sind es wieder die Männer, die eine längere Erwartung als die Frauen haben, führt er aus.
Brüssel prüft aufmerksam diese Fakten, die einen wichtigen Platz auf der Tagesordnung der Debatten in der Union einnehmen. Dabei geht es um den Beitrag, den Senioren zur Gesellschaft leisten, bis hin zu den Rentensystemen und ihrer Fähigkeit, mit den aktuellen Herausforderungen einer steigenden Zahl von Rentnern fertig zu werden. Ein Schlagwort ist diesbezüglich die sogenannte Ökonomie des dritten Alters — Produkte und Dienstleistungen, die gezielt Senioren ansprechen und auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Diese Branche könnte um 5% im Jahr wachsen — auf bis 5,7 Billionen Euro in 2025.
Tourismus, intelligentes Wohnen in Eigenregie, Technologien zur Begleitung der Alterungsprozesse, Wellnessrobotik, automatisierte Mobilität — in solchen Bereichen könnten viele Jobs entstehen. Die Perspektiven der Patienten könnten durch Telemedizin verbessert werden. Frühdiagnostik kann durch neue Biosensoren, die an Smartphones angeschlossen sind, ebenfalls sicherer werden. Und dadurch ist auch eine Überwachung von Patienten aus der Ferne möglich.
All das kommt in einem Grünbuch zur Alterung der Gesellschaft vor, das nach dem Bericht der Europäischen Kommission herausgegeben wurde. Das Papier stößt eine breite Diskussion zu Chancen und Herausforderungen für die europäischen Gesellschaften an. Es spricht das Tempo und den Umfang der Veränderungen und die diesbezüglichen Fragestellungen an. Aus der Perspektive der Kommission gehört alles dazu — von der Förderung einer gesunden Lebensweise und des lebenslangen Lernens bis hin zur Konsolidierung der Gesundheits- und Pflegesysteme. Nicht minder wichtig ist allerdings die Unterstützung einer höheren Geburtenrate, um das Demographiegefälle wieder auszutarieren.